Wild (German Edition)
Neustadt hören, stimmt’s? Habt ihr vielleicht sogar einen Fernseher?« Beantwortete das nicht endlich die Frage, woher die Damhirsche von der Öffnung des Tores wussten?
Jeska seufzte trübsinnig. »Wenn die Jäger nicht wären und die durchgedrehten Mörder, könnte das Leben hier echt schön sein.«
»Sogar das Brot schmeckt gut, wenn man es lang genug eintaucht«, fügte ich hinzu.
»Habt ihr noch was für mich übrig?« Der große Schatten, der über uns fiel, konnte nur Orion gehören.
»Bitte sehr.« Jeska starrte ihn beeindruckt an. Er war der Einzige, der sie dazu brachte, länger als eine Minute zu schweigen.
Orion setzte sich neben mich und verbreitete sofort eine Atmosphäre von Wohlbehagen und Sicherheit. Er legte seine Krücken neben sich ins Gras und streckte das Bein aus. Dann schnupperte er neugierig an meinem Becher. »Das riecht wie meine Arznei.«
»Du kannst ihn gerne haben«, sagte ich, denn Orion hatte ständig Hunger oder Durst. Er sah gut aus. Erholt. Auch wenn seine Augen vielleicht nie diesen wachsamen Ausdruck verlieren würden. »Die Wildnis hat viele Überraschungen parat«, meinte er gut gelaunt. »Eine davon ist, was für hervorragende Ärzte es hier gibt. Und wie jung der eine oder andere ist! Wenn Alfred nicht gerade jemanden behandelt, probiert Gabriel heimlich irgendeine neue Methode aus.«
»Wenn dir das alles zu viel wird, kannst du dich auch in unserem Zelt ausruhen«, bot ich ihm an, worauf Jeska glühend rot wurde.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie hastig. »Und du auch, Pia.«
Die Damhirsche waren erstaunlich gut organisiert; dafür, dass ihr voriges Lager vor wenigen Tagen erst in Flammen aufgegangen war, hatten sie alles gut im Griff. Es gab, soweit ich beobachten konnte, eine genaue Aufgabenverteilung, sodass jeder wusste, was er zu tun hatte. Die einen kümmerten sich um die Zelte, andere gingen Tiere erlegen oder fischen, einige Frauen und halbwüchsige Kinder waren am See, um Wäsche zu waschen.
Für mich hatten sie noch keine richtige Arbeit gefunden; erst wollten sie herausfinden, wofür ich begabt war. Heute sollte ich lernen, welche Kräuter man für Tee benutzen konnte.
Lumina ordnete gerade verschiedene Büschel von Blättern und welken Blüten, als ich auftauchte. »Diese hier trockne ich an den Ästen«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Man muss sie zusammenbinden und einen Platz suchen, an dem sie vor Regen geschützt sind.«
Ich fühlte mich seltsam verlegen, als ich mich neben sie kniete. Sie kam mir so selbstsicher vor, so wissend. Ihr Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, und ich sah die feinen Schweißtröpfchen an ihrem Hals. Es war ein heißer Tag, bei dem man sich nicht bewegen mochte.
»Man muss sie früh morgens ernten, wenn der Tau schon getrocknet ist, die Sonne aber noch nicht im Zenit. Das hier ist Wegerich. Brennnesseln kennst du sicher.«
»Ja«, sagte ich und lutschte an meinem Daumen. »Jetzt schon.«
Sie grinste. »Am besten, ich erkläre dir den Aufbau der Blätter und Blüten, dann ist es leichter, sie auseinanderzuhalten. Ansonsten ist alles nur grünes Zeug.«
»Vor kurzem hätte ich es nicht mit der Zange angefasst, aber ich bin durchaus lernfähig.«
»Ja«, sagte sie und schenkte mir einen nachdenklichen Blick. »Ich glaube, das bist du.«
Der Nachmittag verging wie im Flug. Lumina verstand es, mir die Unterschiede deutlich zu machen, und bald konnte ich von den unterschiedlichen Blattformen und dem Aufbau von Stängeln fachsimpeln. »Wer weiß, vielleicht wirst du eine Kräuterfrau? Wir tun hier ein paar Dinge, die Alfred nicht so liegen. Er spricht nicht gerne mit Frauen … darüber.« Und dann sagte sie unvermittelt: »Es gibt Kräuter, die du einnehmen solltest, wenn du nicht schwanger werden willst.«
»Oh, aber wir …«, stammelte ich, »danke, das ist nicht nötig.« Jetzt wusste ich, warum Ricarda mich zu Lumina geschickt hatte. Wahrscheinlich sollte ich ihr noch dankbar sein, dass sie mich nicht danach gefragt hatte.
»Ansonsten hätte ich noch einen guten Tee gegen Menstruationskrämpfe anzubieten.«
In diesem Moment wurde mir klar, warum ich mich heute so schlapp fühlte. »Bei mir ist es nie besonders schlimm.«
»Das ist gut. Alle Arten von Krankheit sind hier draußen gefährlich. Immerhin sind wir fast ständig auf der Flucht. Am besten, du sprichst mit deiner Mutter darüber, was du tun musst, wenn du deine Tage hast.«
Na, wunderbar. Genau das Thema, über das ich mit Ricarda
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