Wild und frei
Rowena dichter an ihren Vater heran. “Wer ist das?”, fragte sie leise.
“Du brauchst gar nicht zu flüstern”, fuhr er sie etwas ungeduldig an. “Der primitive Kerl versteht kein Englisch.”
“Vater, wer ist er?” wiederholte Rowena ihre Frage, diesmal mit mehr Nachdruck.
“Ein Indianer. Aus Amerika. Ich habe ihn heute in Falmouth gekauft.”
“
Gekauft
habt Ihr ihn? Als Sklaven?”
Sir Christopher blickte sie misstrauisch an. “Ganz bestimmt nicht! Sieh dir den Burschen doch an – viel zu sehr ein Wilder, um einen anständigen Diener abzugeben.”
“Aber warum habt Ihr das dann getan? Aus christlichem Mitleid?”
Sir Christopher schüttelte den Kopf, dann sah er sie fest an. “Nein, Rowena”, sagte er, “ich habe ihn als Kuriosität gekauft.”
“Als Kuriosität?”
“Ja, meine Liebe, als ein seltenes Exemplar. Zu Studienzwecken.”
2. KAPITEL
“Um Himmels willen, habt Ihr Euren Verstand verloren?” Rowena wirbelte herum, um ihrem Vater entgegenzutreten, denn ihr Entsetzen war stärker als der Respekt, den sie ihm sonst entgegenbrachte. “In der Tat ein seltenes Exemplar! Vater, Ihr könnt wohl kaum ein menschliches Wesen in Eure Sammlung aufnehmen und katalogisieren wie einen Vogel oder Fisch!”
“Und was macht dich so sicher, dass die Kreatur ein menschliches Wesen ist?” forderte Sir Christopher seine Tochter heraus. “Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle, dass seine Sprache – wenn man es überhaupt so nennen kann – nichts als blödsinniges Gestammel ist und dass er an Bord der
Surrey Lass
einen Seemann angegriffen und fast getötet hat. Alles in allem scheint der Wilde also bei Weitem mehr Tier als Mensch zu sein. Wie auch immer, es ist meine feste Absicht, ihn genau zu untersuchen und es herauszufinden.”
Rowena blickte schnell von ihrem Vater zu dem großen, dunklen amerikanischen Wilden, der selbst jetzt so aussah, als ob er nur darauf wartete, sie anzugreifen und zu vernichten. Im Laufe der Jahre hatte sie unzählige Affen ebenso ertragen müssen wie Fische, Reptilien, tropische Vögel und sogar einen alten dressierten Bären, die ihr Vater alle in seinem Laboratorium eingesperrt hatte, bis sie in dem kalten englischen Klima krank wurden und starben – um dann unverzüglich auf dem Seziertisch zu landen. Auch wenn sie dies mit Trauer erfüllte, so hatte sie doch gelernt, sich damit abzufinden, dass das Schicksal dieser Kreaturen zur Arbeit ihres Vaters gehörte. Aber ein Mensch – selbst dieser rohe, ungebildete Heide, der jetzt vor ihnen stand? Nein, sie würde das nicht zulassen! Diesmal war Sir Christopher zu weit gegangen!
“Vater!” Rowena packte seinen Arm so fest, dass der alte Mann zusammenzuckte. “Ich flehe Euch an, im Namen der Menschlichkeit, tut das nicht!”
“Und was sollte ich deiner Meinung nach stattdessen tun?” Sir Christopher stieß sie beiseite und warf ihr über seine dicken Brillengläser hinweg einen finsteren Blick zu. “Soll ich ihn gehen lassen? Soll ich den armen Teufel in der Gegend herumstreunen lassen wie einen tollwütigen Hund, damit er schließlich erschossen oder aufgeknüpft wird?”
Rowena atmete langsam aus, denn sie wusste nicht, wie sie seinen Argumenten widersprechen sollte. “Schon gut, dann gebt mir den Schlüssel zu seinen Handschellen. Wenn der Mann schon hier leben soll, können wir wenigstens dafür sorgen, dass er sauber gewaschen ist und anständige Kleidung trägt.” Sie drehte sich von ihrem Vater weg und machte zwei Schritte in Richtung des trotzigen Gefangenen.
Er bewegte sich nicht, aber die mörderische Wut in seinen schwarzen Augen ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Rowena zögerte. Dann griff sie sich an die Kehle, als sie für einen flüchtigen Moment etwas anderes unter dieser Wut erkennen konnte – einen Kummer, so tief und so verzweifelt, dass es ihr einen Stich ins Herz gab.
“Nicht näher”, warnte ihr Vater aus dem Hintergrund. “Die Kreatur ist gefährlich. Wenn er freikommt, ist gar nicht auszudenken, wozu er fähig ist, ganz besonders, was er einer Frau antun könnte. Du musst einen Sicherheitsabstand einhalten, Rowena, und zwar immer.”
Rowena betrachtete den Gefangenen eingehend aus ein paar Schritt Entfernung. Gefährlich war er sicherlich. Er war wie ein verwundetes Tier, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst. Aber was wäre, wenn sie als eine Geste des Mitgefühls die Hand nach ihm ausstrecken und ihn sanft berühren würde?
Sie hob die Hand ein wenig, aber
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