Wild wie das Meer (German Edition)
die Soldaten vorbeigezogen waren.
Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und schien hell und warm, als die Jungen den breiten Weg betraten und den herannahenden Soldaten munter zuwinkten. Einige Soldaten winkten zurück, und einer warf den Brüdern sogar ein Stück Brot zu. Als die Wagen langsam vorbeifuhren, winkten die beiden mit gespielter Fröhlichkeit weiter. Dann stieß Devlin seinem Bruder den Ellbogen in die Rippen, und schon rannten sie hinter dem letzten Wagen her. Devlin sprang als Erster auf die Ladefläche, streckte seine Hand aus und zog Sean ebenfalls auf das Fuhrwerk. Geschwind verbargen sie sich hinter Säcken mit Mehl und Kartoffeln, rückten näher zusammen und schauten sich an.
Devlin hatte das Gefühl, einen kleinen Triumph errungen zu haben, und lächelte Sean fast schon verwegen an.
„Und was jetzt?“, wisperte sein kleiner Bruder.
„Wir warten“, flüsterte Devlin zurück. Eigenartig, trotz aller Widrigkeiten verspürte er eine tiefe Zuversicht.
Sowie die Fuhrwerke sicher das Garnisonstor passiert hatten, wagte Devlin einen Blick über den Rand des Wagens. Da im Augenblick niemand die Rückseite des letzten Fuhrwerks im Blick hatte, stieß er Sean an. Schnell sprangen sie von dem Wagen herunter und liefen um die Ecke des erstbesten Zeltes.
Fünf Minuten später kauerten sie bei dem Zelt des Befehlshabers hinter zwei Wasserfässern, unauffällig und – für den Augenblick – sicher.
„Was sollen wir jetzt machen?“, wollte Sean wissen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Wetter hielt sich vorerst, obgleich graue Wolken am Horizont noch mehr Regen verhießen.
„Scht“, ermahnte Devlin ihn und überlegte angestrengt, wie sie ihre Mutter befreien könnten. Die Lage schien aussichtslos. Aber es musste einen Weg geben! Immerhin waren sie nicht so weit gekommen, um jetzt dem englischen Hauptmann in die Hände zu fallen. Vater würde von seinem Ältesten erwarten, dass er versucht, Mutter zu retten – und er wollte ihn nicht ein zweites Mal enttäuschen.
Plötzlich holte ihn die schreckliche Erinnerung wieder ein –der abgetrennte Kopf seines Vaters auf dem Boden, die Blutlache, die Augen, die noch offen und voller Zorn waren, obwohl kein Leben mehr in ihnen wohnte.
Die neu gewonnene Zuversicht geriet ins Wanken, aber sein eherner Vorsatz stand unwiderruflich fest.
Jetzt waren Rufe von den Posten am Tor zu hören. Donnernder Hufschlag ließ auf eine Reiterschar schließen, die sich dem Fort in gestrecktem Galopp näherte. Vorsichtig lugten Devlin und Sean zwischen den Fässern hervor. Captain Hughes war vor sein Zelt getreten, da auch er offenbar wissen wollte, um wen es sich bei den Ankömmlingen handelte. Er hielt einen Cognacschwenker in der Hand und wirkte mit sich und der Welt zufrieden.
Von seinem Versteck aus folgte Devlin dem Blick des Offiziers. Hughes schaute in Richtung Süden zum Haupttor, durch das die Jungen hereingekommen waren. Devlin traute seinen Augen nicht. Tatsächlich sprengte eine Reiterschar heran, und das Banner, das über dem Fahnenträger im Winde wehte, war kobaltblau, silberfarben und schwarz – Farben, die dem Jungen allzu vertraut waren. Neben ihm sog Sean geräuschvoll die Luft ein, und die Brüder tauschten ungläubige Blicke.
„Das ist der Earl of Adare“, wisperte Sean aufgeregt.
Rasch hielt Devlin seinem Bruder die Hand vor den Mund. „Er kommt gewiss, um zu helfen. Leise jetzt.“
„Verflucht seien die Iren, auch die mit England verbündeten“, sagte Hughes zu einem anderen Offizier gewandt. „Dort kommt der Earl of Adare.“ Offenkundig verstimmt, warf der Hauptmann den Cognacschwenker achtlos zu Boden.
„Sollen wir die Tore schließen, Sir?“
„Unglücklicherweise ist der Earl ein guter Bekannter von Lord Castlereagh, zudem gehört er dem Irischen Kronrat an. Wie ich hörte, saß er bei einem Staatsbankett neben Cornwallis persönlich. Wenn ich jetzt die Tore schließen lasse, könnte mich das teuer zu stehen kommen.“ Hughes Miene verfinsterte sich zusehends, und oberhalb des schwarzgoldenen Kragens seines roten Waffenrocks waren hektische rote Flecken zu sehen.
Devlin bemühte sich, seine Aufregung zu unterdrücken. Edward de Warenne, der Earl of Adare, war ihr Gutsherr. Und obwohl Gerald O’Neill seine eigenen, angestammten Ländereien von Adare gepachtet hatte, waren die beiden Männer weit mehr als Herr und Pächter gewesen. Zeitweilig hatten sie dieselben ländlichen Festlichkeiten besucht,
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