Wild wie das Meer (German Edition)
durch.“
Devlin blickte von dem Earl zu dem englischen Kommandanten, während die beiden Kontrahenten sich unverwandt anschauten. Deutlich spürte er, wie ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern über den Rücken lief. Einen langen Augenblick war es so still in dem Fort, dass man das Rascheln eines einzelnen Blattes vernommen hätte.
Schließlich war Captain Hughes’ Stimme zu vernehmen. „Zurücktreten“, befahl er. „Lasst sie ziehen.“
Die Reihe der Soldaten teilte sich.
Adare hob die Hand, brachte sein Pferd mit einem Schenkeldruck in leichten Trab und führte seinen kleinen Tross vorbei an den englischen Truppen zum Tor hinaus.
Devlin hielt sich an dem Soldaten fest, hinter dem er saß.
Doch er warf einen Blick zurück ... und sah dem englischen Hauptmann geradewegs in die eiskalten hellblauen Augen.
Und schon stellte sich dieses brennende Gefühl wieder ein.
Es regte sich irgendwo tief in seiner Seele und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Eine sengende Hitze drang in sein Blut und drohte ihn mit einer weiß glühenden Spitze zu verzehren.
Eines Tages würde er Vergeltung üben. Eines Tages, wenn die Zeit der Rache gekommen war. Und dann würde Captain Harold Hughes für den Mord an Gerald O’Neill bezahlen.
TEIL 1
Die Gefangene
1. KAPITEL
5. April 1812 Richmond, Virginia
S ie weiß ja nicht einmal, wie man tanzt“, sagte eine der jungen Damen hinter vorgehaltener Hand kichernd.
Virginia Hughes’ Wangen brannten. Sie sah sich den Blicken sämtlicher Mädchen ausgesetzt, die sich hinter ihr im Tanzsaal aufgereiht hatten. Jetzt hatte der Tanzlehrer ausgerechnet sie aufgefordert und hielt ihr einen Vortrag über den sissonne ballotté, einen schwierigen Schritt, den man bei der Quadrille benötigte. Nicht genug, dass Virginia diesen Schritt nicht verstanden hatte, er interessierte sie obendrein nicht. Das Tanzen sprach sie überhaupt nicht an – sie wünschte nur, sie wäre wieder daheim in Sweet Briar.
„Und nie aufhören, gepflegte Konversation zu betreiben, Miss Hughes, nicht einmal bei der Ausführung eines Tanzschritts. Ansonsten wird man Sie missverstehen“, ermahnte sie der schlanke dunkelhaarige Lehrer.
Doch Virginia hörte dem Mann kaum zu. Sie schloss die Augen, und schon beim nächsten Atemzug kam es ihr so vor, als sei sie an einem anderen Ort in einer anderen Zeit, und dieser Ort war weitaus besser als die Marmott Schule für höhere Töchter mit ihren furchterregenden Mauern.
Genüsslich sog sie die Luft ein und glaubte, den berauschenden Duft des Geißblatts wahrzunehmen; sogleich stellte sich der weitaus stärkere Geruch der schwarzen Erde Virginias ein, deren Krume nun im Frühjahr zur Bekämpfung von Schädlingen verbrannt wurde. Deutlich sah sie die dunklen Felder vor ihrem geistigen Auge, die sich bis zum Horizont erstreckten. In schier endlosen Reihen verteilten die Sklaven in weißer Kleidung die glühenden Kohlen, und weiter vorn sah sie die sanft ansteigenden Rasenflächen, die Rosengärten und die alten Eichen und Ulmen, die das stattliche, aus roten Backsteinen erbaute Haus umstanden, das ihr Vater gebaut hatte.
Virginia vermisste Sweet Briar, doch viel mehr noch sehnte sie sich nach ihren Eltern. Eine Woge des Kummers erfasste sie so heftig, dass sie die Augen aufriss und sich in dem verhassten Tanzsaal ihrer Schule wiederfand, auf die man sie geschickt hatte. Der italienische Tanzlehrer sah ziemlich verärgert aus und hatte die Hände in die Seiten gestemmt.
„Warum hat sie so lange die Augen zugemacht?“, wisperte ein Mädchen.
„Weil sie flennt“, war die hochnäsige Antwort.
Virginia wusste, dass die letzten Worte von der blonden Schönheit Sarah Lewis gekommen waren – sie hielt sich für die begehrteste Debütantin in ganz Richmond, ungeachtet der Tatsache, dass sie die Schule erst Ende des Jahres verlassen würde. Virginia drehte sich um, kochend vor Wut, und schritt auf Sarah zu. Virginia war sehr klein und dünn, hatte ein hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen und leuchtende violette Augen. Ihr dunkles Haar, das ihr eigentlich bis zur Taille ging, war streng hochgebunden, da sie sich weigerte, es schneiden zu lassen. Sarah war gut drei Zoll größer als Virginia, dazu noch zwölf Pfund schwerer. Doch das kümmerte Virginia nicht.
Ihren ersten Streit hatte sie als Sechsjährige mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft ausgetragen. Es war zu einem Gerangel gekommen, und als ihr Vater die Kratzbürsten getrennt hatte,
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