Wilde Chrysantheme
nahm.
»Ich kann mich keineswegs über einen Mangel an Spannung beklagen.« Juliana beugte sich über die Brüstung der Loge. »Wenn das Stück auch nur halb so faszinierend ist wie die Zuschauer dort unten, dann werde ich sehr zufrieden sein. Warum haben sie eigentlich diese Eisenspitzen um die Bühne herum angebracht?«
»Sie sollen die Zuschauer davon abhalten, das Rampenlicht zu erstürmen.« Tarquin lächelte über ihren verdutzten Ausdruck. »Siehst du die ziemlich kräftigen Männer dort hinten? Sie dienen als zusätzliches Abschreckungsmittel.«
Juliana lachte. »Ich bin so froh, daß ich nach London gekommen bin.« Dann errötete sie plötzlich, als eine Erinnerung sie durchfuhr und ihren eben noch so strahlenden Ausdruck trübte. »Oder ich wäre es, wenn mich andere Umstände hierhergeführt hätten.«
Quentin berührte mitfühlend ihre Schulter. Tarquin zog es vor, die Bemerkung zu ignorieren. Einen Moment lang herrschte verlegenes Schweigen, dann ertönte ein gebieterischer Trommelwirbel aus dem Orchestergraben. Der Vorhang schwang auf, und David Garrick stolzierte auf die Bühne, um den Prolog zu den abendlichen Darbietungen zu sprechen.
Juliana hörte fasziniert zu, als die Aufführung begann. Das Stimmengewirr im Zuschauerraum hielt die ganze Zeit über unvermindert an, während sich die Leute miteinander unterhielten und den neuesten Klatsch austauschten; aber Julian vergaß alles um sich herum, da sie sich vollkommen auf das Bühnengeschehen konzentrierte. Es erschien ihr nicht im mindesten seltsam, daß Macbeth in modernen Kostümen gespielt werden sollte, mit Garrick in der Titelrolle, gekleidet in die Galauniform eines hannoveranischen Offiziers.
Als die erste Pause begann, lehnte sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in ihrem Sessel zurück. »Was für ein Zauber! Es ist doch etwas ganz anderes, die Worte von Schauspielern gesprochen zu hören, als zu Hause in der Bibliothek, selbst wenn man den Text laut liest.«
»Ich freue mich, daß es dir gefällt,
Mignonne.«
Tarquin erhob sich. »Entschuldige mich bitte für eine Minute. Dort ist jemand, den ich begrüßen muß.« Er schlenderte davon, und Juliana wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Menschenmenge zu. In der vordersten Parkettreihe drohte ein Streit in Handgreiflichkeiten auszuarten, und ein Mann machte Anstalten, sein Schwert zu ziehen. Jemand brüllte etwas Scherzhaftes und bewarf die beiden Kontrahenten mit einer Handvoll Orangenschalen. Gelächter ertönte, und der Moment der Spannung schien sich in Wohlgefallen aufzulösen.
Juliana blickte über den Zuschauerraum hinweg zu den Logen auf der anderen Seite. In der Loge direkt gegenüber entdeckte sie den Herzog. Er stand hinter dem Stuhl einer Frau, die in dunkles Grau gekleidet war, mit einem hellen Tuch um den Hals und das Haar streng unter einer weißen Haube verborgen. Sie schaute zu Tarquin auf, als dieser mit ihr sprach.
»Mit wem unterhält sich der Herzog?« wollte Juliana wissen.
»Mit Lady Lydia Melton, wie ich annehme«, antwortete Quentin, ohne seinen Blick von dem Gewimmel im Parkett zu lösen. »Seiner Verlobten.« Sein betont beiläufiger, gelassener Ton hatte etwas Falsches an sich, doch Juliana war zu verblüfft über diese Enthüllung, um es dabei zu belassen.
»Seine
Verlobte
?« Sie hätte die Bestürzung in ihrer Stimme nicht vertuschen können, selbst wenn sie es versucht hätte. »Er wird heiraten?«
»Hat er Ihnen nichts davon gesagt?« Quentin konnte sich anscheinend noch immer nicht von dem Geschehen im Saal losreißen, um seinen Blick auf Juliana oder den Gegenstand der Diskussion zu lenken.
»Nein… offenbar gibt es eine ganze Menge, wovon er mir nichts erzählt hat.« All ihre Freude an dem Abend fiel in sich zusammen, und der bittere Groll von heute morgen kehrte zurück.
»Er hat vermutlich gedacht, seine Verlobung wäre belanglos für Sie… für jeden«, fügte er leise hinzu.
»Belanglos, allerdings«, erhob sie ihre Stimme. »Warum sollte es mir etwas ausmachen?«
»Nun, es wird auf jeden Fall noch eine ganze Weile dauern, bis die beiden heiraten«, erklärte Quentin ihr mit ausdrucksloser Stimme. »Die Hochzeit sollte schon vor zwei Monaten stattfinden, aber Lydias Großvater verstarb plötzlich, und die ganze Familie legte Trauerkleidung an. Sie werden die vollen zwei Jahre um den Verstorbenen trauern.«
»Warum ist die Dame dann hier?« fragte Juliana spitz. »Ein Theaterbesuch läßt sich wohl kaum mit tiefer Trauer
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