Wilde Chrysantheme
so, Bruder?«
»Absolut«, stimmte Quentin zu. »Es besteht keinerlei Notwendigkeit, daß Juliana ganz allein im Salon sitzt, während wir uns mit Portwein betrinken.«
»Lucien hätte da sicher eine abweichende Meinung«, bemerkte Tarquin.
Juliana warf ihm einen schnellen Blick über ihre Schulter zu, doch sein Ausdruck war so nüchtern und leidenschaftslos wie sein Tonfall. Wie würde sich wohl die Anwesenheit ihres Ehemannes auf die Atmosphäre auswirken? Entschieden negativ, dachte sie.
Aber sie war nicht bereit, sich von solchen Schatten die Freude an dem Abend verderben zu lassen. Diese Situation hatte sich ohne ihr Zutun ergeben, und sie tat gut daran, ihre Vorteile zu genießen.
Sie fuhren mit der Stadtkutsche des Herzogs nach Covent Garden, und Juliana blickte aus dem Fenster, fasziniert von dem lebhaften abendlichen Treiben auf den Straßen Londons. Es war das erste Mal, daß sie abends ausging, seit sie im Hof der »Glocke« aus der Postkutsche gestiegen war, und als sie nach Covent Garden einbogen, sah sie, daß der Platz einen völlig anderen Anblick bot als bei Tage. Die Straßenhändler waren verschwunden, die Marktstände und Buden abgebaut. In der Mitte des Platzes stolzierten jetzt Scharen von grell gekleideten Prostituierten in Begleitung von Lakaien auf und ab, um ihre Dienste feilzubieten, und Jungen rannten in der Menschenmenge hin und her und priesen mit lauter Stimme die diversen Vergnügungen an, die die Kundschaft in den spezialisierten Bordellen erwarteten, die sich als Kaffeehäuser und Schokoladengeschäfte tarnten.
Unter den Kolonnaden schlenderten vornehme Leute und beäugten das bunte Treiben auf dem Platz, während sie sich einen Weg zum Königlichen Theater bahnten. Es war inzwischen kurz vor achtzehn Uhr, und vor der Auffahrt herrschte ein unglaublicher Andrang. Die Menschenmenge vor den Türen war eine brodelnde Masse von Individuen, die sich gegenseitig stießen, anrempelten und miteinander stritten, als sie sich in das Foyer drängten, um noch einen Platz in letzter Minute zu ergattern.
Juliana blickte erschrocken auf das Gewimmel und fragte sich, wie sie wohl mit ihrem weiten Reifrock in das Gebäude gelangen sollte. Sie würde sich unweigerlich das Kleid zerreißen, wenn sie sich zwischen all den Menschenleibern hindurchzwängen müßte. »Fängt das Stück nicht um achtzehn Uhr an?« fragte sie besorgt.
»Richtig.« Tarquin hob sie aus der Kutsche und stellte sie auf das Kopfsteinpflaster.
»Aber wenn wir noch keine Plätze haben…«
»Die haben wir, meine Liebe«, zerstreute Quentin ihre Besorgnis. »Tarquins Lakai war bereits um vier Uhr hier, um eine Loge für uns zu reservieren.«
So also handhabten die Privilegierten solche Dinge. Juliana zog eine Braue hoch und gab zu, daß es ihr gefiel dazuzugehören. Der Herzog und Lord Quentin nahmen sie in ihre Mitte, als sie sich dem Gewimmel vor den Türen näherten. Wie es geschah, hätte Juliana nicht zu sagen vermocht, aber plötzlich tat sich ein Pfad in der Menschenmenge auf, und Sekunden später war sie im Inneren des Theaters, ihr Kleid heil und in einem Stück, ohne eine einzige verrutschte Rüsche, beide Schuhe noch fest an den Füßen, und ihr Reifrock von untadeligem Benehmen. Sie hatte den vagen Eindruck, daß ihre beiden Begleiter hier und da eine Schulter angerempelt, ein paar energische Worte gemurmelt und gelegentlich einen hinderlichen Körper zur Seite geschoben hatten. Wie auch immer sie es bewerkstelligt hatten, sie waren am Ziel.
Das Orchester spielte, aber die Musik wurde völlig übertönt von dem lauten Stimmengewirr im Saal, während Leute zwischen den Sitzreihen entlangschlenderten und gelegentlich stehenblieben, um mit Freunden zu plaudern, oder über die Köpfe der Sitzenden hinwegriefen, um Bekannte in einem anderen Teil des Zuschauerraums auf sich aufmerksam zu machen. Über den allgemeinen Lärm hinweg waren die Stimmen von Orangenverkäuferinnen zu hören, die in schriller Höhe alles durchdrangen.
»Hier entlang.« Tarquin manövrierte Juliana geschickt durch das Gewühl und führte sie in eine Loge mit ungehindertem Blick auf die Bühne, in der ein Lakai in der Redmayneschen Livree wartete und sich ehrerbietig verbeugte, als sie eintraten. Der Herzog ließ Julianas Ellenbogen nicht eher los, bis sie auf einem der vorderen Logenplätze saß. »So, wenn du jetzt nicht auf Entdeckungsreisen gehst, bist du hier sicher und wohlbehalten aufgehoben«, sagte er, als er neben ihr Platz
Weitere Kostenlose Bücher