Wilde Chrysantheme
unfähig, seinen Augen zu trauen, während sein Herz vor Erregung hämmerte. Juliana stand auf der anderen Straßenseite und hatte ihm das Gesicht zugewandt. Sie unterhielt sich angeregt mit ihren beiden Begleitern, deren höchst elegante Kleidung George augenblicklich das Gefühl vermittelte, schäbig und hausbacken ausstaffiert zu sein. Es spielte keine Rolle, daß er seinen Anzug bei einem Schneider in der Bond Street hatte anfertigen lassen. Verglichen mit den beiden Herren an Julianas Seite, hätte er ebensogut auch einen Arbeitskittel tragen und eine Mistforke in der Hand halten können.
Und erst Juliana! Er hatte sie noch nie zuvor in einem solchen Aufzug erlebt. Wäre nicht ihr auffälliges Haar gewesen, der Ausdruck auf ihrem Gesicht und die ihm wohlbekannte üppige Figur, nach der es ihn seit Wochen gelüstete, dann hätte er geglaubt, seine Besessenheit müsse seinen Verstand verwirrt haben. Sie war so prächtig gekleidet wie jede der Damen, die er bewundert und angegafft hatte, als er sie in den St. James' Palast hatte gehen oder durch den Hyde Park schlendern sehen. Auch über Julianas Robe lag dieser undefinierbare Hauch von raffinierter großstädtischer Eleganz und Qualität, die George Ridge in seinem rotbraunen Brokatanzug wie einen Bauerntölpel wirken ließ. Ihm ging auf, daß Lady Forsett vor Empörung außer sich sein würde, wenn sie ihr ehemaliges Mündel derart herausgeputzt herumstolzieren sähe. Solch ein weiter Reifrock, und was für einen schockierend tiefen Ausschnitt ihr lavendelfarbenes Seidengewand hatte!
George wich in die Schatten des Gebäudes zurück, damit Juliana ihn nicht sähe, wenn sie zufällig einen Blick über die Straße warf. Nun war er in Deckung und fuhr fort, die drei auf der anderen Straßenseite anzustarren. Wer waren die beiden Männer in ihrer Begleitung? Betätigte sie sich als Dirne? Es war die einzig mögliche Erklärung, die ihm einfiel – daß es ihr in den Tagen seit ihrer Ankunft in London allein und ohne Freunde irgendwie gelungen war, sich einen reichen Beschützer mit ausgezeichneten Verbindungen zu angeln. Oder vielleicht auch zwei. Sie lachte und unterhielt sich mit ihren Gefährten mit einer natürlichen Ungezwungenheit, die entweder auf lange Bekanntschaft oder ein beträchtliches Maß an Intimität hindeutete.
Diese Erklärung leuchtete George am ehesten ein. Er leckte sich unwillkürlich die Lippen, als er sich vorstellte, wie das Leben einer Hure das überhebliche und unerfahrene Landmädchen verändern würde, das er gekannt hatte. Aber wie würde sie auf die Aussicht reagieren, als die Ehefrau von Sir George Ridge nach Hampshire zurückzukehren, wenn sie sich auf dem Tummelplatz der Londoner Hautevolee amüsiert hatte?
In dem Moment fuhr eine Kutsche auf der anderen Straßenseite vor und versperrte ihm den Blick auf die drei Gestalten. George schoß gerade noch rechtzeitig aus dem Schatten, um mitzubekommen, wie einer der Männer Juliana in den eleganten Vierspänner half. Die Begleiter folgten ihr, und die Tür wurde zugeschlagen. George starrte auf die herzogliche Krone, die die Tür der Kutsche schmückte. Er konnte nicht den lateinischen Wahlspruch entziffern oder das Wappen identifizieren, aber er wußte, daß die Kutsche einem Herzog gehörte. Juliana wollte offenbar hoch hinaus. Vielleicht zu hoch für einen einfachen Gutsbesitzer vom Lande, wie reich er auch immer sein mochte…
Er bahnte sich einen Weg zwischen den Passanten hindurch zu einer Mietkutsche, die neben einer Gruppe von betrunkenen Männern angehalten hatte, die sich noch darüber stritten, wo sie ihren Abend fortsetzen sollten. George drängelte sich hastig zwischen ihnen hindurch und sprang in die Droschke, bevor sie überhaupt begriffen, was geschah. »Folgen Sie der Kutsche dort vorn. Der schwarz-gelben«, wies George den Kutscher an, während er mit seinem Schwertheft gegen das Dach schlug.
Die Droschke setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und ihre vorgesehenen Fahrgäste, die weiterhin am Straßenrand debattierten, fuhren herum und gestikulierten böse hinterdrein. Sie unternahmen einen halbherzigen Versuch, dem Gefährt zu folgen, einer von ihnen klammerte sich sogar an den Haltegriff am Fenster und lief ein paar Meter nebenher, während er George wüst als einen heimtückischen Dieb beschimpfte, bevor er in die Gosse stürzte.
George beugte sich ängstlich aus dem Fenster und versuchte angestrengt, die schwarz-gelbe Kutsche im Auge zu behalten, als sie in
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