Wilde Glut - Singh, N: Wilde Glut
konzentrieren, schaltete beim Gehen ihr Notepad an und rief den Tagesplan auf. Seit acht Jahren leitete sie das Training der jungen Soldaten, die ersten vier war sie Assistentin ihres Vaters Abel gewesen, jetzt hatte sie seine Aufgabe übernommen, während er sich einer anderen zugewandt hatte. In den letzten Jahren hatte sie sich auch zunehmend um die persönlichen Belange der dominanten jungen Rudelgefährten gekümmert. Sie fragten sie um Rat, wollten Dampf ablassen oder einfach nur mit ihr zusammen sein, weil die Wölfin das Tier in ihnen beruhigte. »Was du nicht mehr tun kannst, wenn du dich nicht wieder einkriegst«, murmelte sie, mit sich selbst unzufrieden, weil Drew sie dermaßen durcheinanderbrachte.
Gerade in diesem Moment lief sie ausgerechnet derjenigen Person in die Arme, die in ihr lesen konnte wie in einem offenen Buch.
»Kindchen«, sagte ihre Mutter und sah sie so liebevoll an, dass Indigos Herz schmerzte. »Drück mich mal.«
Indigo hatte sich bereits zu der Frau vorgebeugt, die sie liebte und deren Abbild sie war. Tarah Riviere hatte ebenfalls kohlrabenschwarzes Haar, in dem es erst an wenigen Stellen silbern glitzerte, genauso lebendige blaue Augen, in denen es purpurn blitzte, und war ebenso groß.
Mehr Gemeinsamkeiten hatten sie allerdings nicht. Indigo war sehr muskulös, ihre Mutter dagegen körperlich fit, aber mit sehr weiblichen Rundungen. Außerdem war Indigo schon von Geburt an dominant, während Tarah zu den freundlichen, eher folgsamen Mitgliedern im Rudel gehörte. Im Gegensatz zu Indigo, die sich selbst einem Mann, den sie liebte, nie würde unterwerfen können, machte es Tarah glücklich, sich an ihren Mann anzulehnen.
»Guten Morgen, Mama.«
Ihre Mutter umfing Indigos Gesicht mit beiden Händen und sah sie prüfend an. »Was betrübt dich, meine Große?«
Bei jedem anderen in der Höhle hätte Indigo steif und kalt alle Fragen an sich abperlen lassen, aber bei ihrer Mutter fiel ihre Abwehr in sich zusammen wie ein undichter Ballon. »Streit mit Drew«, sagte sie und hoffte, dass ihre Mutter es dabei beließe. Sie hatte absolut keine Lust, zu erklären, worum es bei diesem Streit ging.
Tarah lachte, hakte sich bei ihrer Tochter ein und ging mit ihr zu den Gemeinschaftsräumen. »Hast du Zeit, mit deiner Mutter einen Kaffee zu trinken?«
»Aber ja, das weißt du doch.« Das war ihr gemeinsames Ritual, allerdings ohne festgeschriebene Regeln oder gar feste Termine. Ein paar Mal pro Woche trafen sie sich. Manchmal trafen sie sich zum Reden und Kaffeetrinken, manchmal gingen sie im Wald spazieren, und manchmal machten sie sich eine Schüssel Popcorn und sahen sich einen Film an, bei dem sie beide heulten wie Kleinkinder.
Ihr Vater sorgte meist dafür, dass er dann nicht zu Hause war.
Lächelnd versuchte Indigo, sich zu erinnern. »Wie lang machen wir das schon so? Seit ich zehn bin?« Es hatte, wie sie wusste, mit Evangeline zu tun.
Ihre viel jüngere Schwester war als Kind beängstigend schwach gewesen, und keiner hatte je den Grund herausgefunden. Wenn Indigo erkältet war, war sie am nächsten Tag wieder auf den Beinen und rannte herum. Evie musste in einem solchen Fall künstlich beatmet werden und zitterte am ganzen Körper. Indigo hatte immer gefürchtet, sie könnte die geliebte Schwester verlieren – ohne etwas dagegen tun zu können, ohne Evie beschützen zu können.
Ihre Mutter drückte ihren Arm. »Du bist auch mein Kind.«
Indigo rückte näher heran, ihre Wölfin brauchte die Berührung. »Wie geht es Evie? Ich habe schon seit Tagen nichts mehr von ihr gehört.« Ihre Schwester hatte endlich die besonders für eine Gestaltwandlerin unerklärliche Kränklichkeit überwunden. Sie war im zweiten Jahr auf dem College, eine freundliche, gefügige Wölfin, hinter der mehr als ein junger Wolf in der Höhle her war – und auch einige Menschen außerhalb.
»In drei Wochen kommt sie zu uns zu Besuch.«
Indigos Wölfin streckte Tatzen und Rücken vor Vergnügen.
»Und sie lässt dir ausrichten«, fuhr Tarah fort, »dass du nicht alle Männer schon vorher vergraulen sollst – besten Dank – , sie will mit richtig gefährlichen und wilden Typen ausgehen.« Indigos Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen. »Such uns einen schönen Platz aus, ich hole uns Kaffee.«
Der Gedanke, ihre gertenschlanke Schwester könnte mit einem der ruppigen jungen Wölfe zusammen sein, behagte Indigo gar nicht, mit finsterem Gesicht drängte sie sich an Mobiliar in verschiedenen
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