Wilde Pferde in Gefahr
hatte Grandma nicht genug Milch, um ihr Baby durchzubringen. Zum Glück hatten sie eine Stute und ihr Fohlen dabei. Die Stute war ein Mustang, die sie eingefangen und gezähmt hatten. Damals im Westen brachte man keine Pferde um. Mit der Milch, die sie von der Stute bekamen, retteten sie meinem Pa das Leben.«
»Eine wunderbare Geschichte«, erwiderte Peggy. »Und seitdem seid ihr eine Familie mit Mustangverstand. Kein Wunder, dass du dich so für die armen Tiere einsetzt.« Sie hatten das Blockhaus erreicht und blieben vor der schmalen Veranda stehen. »In meiner Familie gibt es leider keine Pferdevergangenheit. Mein Dad war Automechaniker und meine Ma hat während des Krieges in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Das Reiten hab ich auf der Ranch einer Freundin gelernt. Ich hatte schon immer was für Pferde übrig.«
»Was machen deine Eltern jetzt?«
»Sie sind geschieden«, antwortete Peggy. Sie blickte an Annie vorbei in die Dunkelheit. »Ich sehe sie nur noch ganz selten.«
»Das tut mir leid. – Komm, ich zeige dir dein neues Zuhause.«
Das Blockhaus war einfach, aber sehr gemütlich eingerichtet. Die Wände des kombinierten Wohn- und Schlafzimmers bestanden aus ungeschältenBaumstämmen, die nach Harz rochen und an die Hütte eines Fallenstellers aus dem Wilden Westen erinnerten. Das Bett wirkte ebenfalls sehr rustikal. Die Küchenecke mit einer Herdplatte, einem Wandschrank mit zwei Türen und einem kleinen Kühlschrank war durch eine Frühstücksbar mit zwei Hockern vom Wohnraum getrennt. Hinter der Küche ging es ins Bad. Das Gemälde an der Wand über dem Bett zeigte einen galoppierenden Mustang.
»Ein echtes Ölgemälde«, staunte Peggy.
»Ich male ein bisschen«, gestand Annie etwas verlegen. »Nichts Besonderes, aber es beruhigt mich bei dem Trubel, den ich sonst habe. Der Job bei der Versicherung, die Kinder an den Wochenenden, die vielen Aktionen, um endlich das Gesetz gegen die unmenschlichen Fangmethoden durchzubringen …«
»Du arbeitest bei einer Versicherung?«
»Seit ein paar Jahren schon. Von irgendwas muss man ja leben.« Annie schaltete den Ventilator auf der Kommode ein und nickte zufrieden, als er sich zu drehen begann. »Bei Gordon Harris in Reno. Gordon ist ein guter Freund und unterstützt uns bei unserem Kampf gegen die Mustangjäger. Du musst ihn unbedingt mal kennenlernen. Nun, bist du zufrieden mit deinem Blockhaus?«
»Natürlich, es ist sehr gemütlich.«
Annie ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. Ihr gekrümmter Körper zwang sie dazu, sich amRahmen festzuhalten. »Du hast mich gar nicht gefragt, warum ich so … anders aussehe«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ich weiß«, erwiderte Peggy. »Ich dachte, du würdest es mir erzählen, wenn es dir wichtig ist.«
Annie lächelte dankbar. »Ich bekam Kinderlähmung. Meine Eltern schickten mich in ein Krankenhaus nach San Francisco, ihre ganzen Ersparnisse gingen dabei drauf, und ich musste ein halbes Jahr in einem Korsett aus Gips aushalten. Danach war ich … nun ja, ich sah nicht mehr so aus wie früher, aber ich war nicht mehr in Lebensgefahr und konnte sogar wieder reiten. Hobo, den Hengst, den ich damals ritt, besitze ich heute noch.«
»Das tut mir leid, Annie.«
»Es muss dir nicht leidtun. Ich hatte sehr viel Glück. Mein kleiner Bruder ist an Kinderlähmung gestorben. Ich rede nicht gern über diese Zeit, wollte aber, dass du es weißt. Wir sehen uns morgen früh. Um halb sieben gibt’s Frühstück, okay?«
Nachdem Annie gegangen war, räumte Peggy ihre Sachen in die Kommode. Viel besaß sie nicht. Ein paar Kleider, Röcke und Blusen, die dunklen Hosen und die Fransenblusen für die Wettkämpfe, die verzierten Stiefel, die einfachen für den Alltag, flache Schuhe für die Stadt und ein Paar hohe Schuhe zum Ausgehen. Ihre Waschsachen, ihren kleinen Schminkkoffer, die Taschenbücher, die sie unterwegs gekauft hatte. Auf demBeifahrersitz ihres Pick-ups lag ein Koffer mit ihrem gesamten Hausrat. Bevor sie auf Rodeo-Tour gegangen war, hatte sie ihr Apartment in Billings aufgegeben und wohnte dann in billigen Motels, manchmal schlief sie sogar auf der Ladefläche ihres Autos.
Sie stellte ihren Wecker und den kleinen Plüschbären, den sie von einem weiblichen Fan bekommen hatte, auf den Nachttisch und trat vor die Tür. Ein Ritual, das sie sich in den Motels angewöhnt hatte, um noch einmal frische Luft zu atmen, bevor sie sich mit einem Buch ins Bett legte. Sie setzte sich in den alten Schaukelstuhl,
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