Wilde Pferde in Gefahr
einen Annäherungsversuch bei Donna. Annies warnenden Blick bemerkte sie nicht. »Hat dir deine Mutter denn keinen Kosenamen gegeben?«
»Die hat mich nur beschimpft!«
»Wie bitte?«
»Sie hat böse Sachen zu mir gesagt!« Donna begannzu weinen, ließ die Gabel fallen und rannte aus dem Zimmer. Ihr Stuhl polterte zu Boden.
»Das wollte ich nicht«, erschrak Peggy. »Ich wusste doch nicht …«
»Du kannst nichts dafür«, sagte Annie. »Wir hätten dir sagen sollen, dass du sie nicht auf ihre Mutter ansprechen sollst. Donna hat sehr unter ihr gelitten. Armes Kind. Auch bei ihrer Tante hat Donna wohl nie richtige Liebe erfahren.«
»Soll ich mal mit ihr reden?«, fragte Peggy.
»Nein, lieber nicht«, hielt Annie sie zurück. »Wenn sie in dieser Stimmung ist, lässt man sie besser allein. Hat uns die freundliche Dame vom Jugendamt empfohlen. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich wie ein ›normales‹ Mädchen benimmt. Der Umgang mit den Pferden könnte ihr vielleicht helfen.«
»Dann sollte ich bald mit ihr ausreiten. Vielleicht morgen?«
»Ein gute Idee. Wenn du magst?«
Peggy trank einen Schluck von ihrem Kaffee, der inzwischen lauwarm geworden war. Auch der Auflauf mit Hühnerfleisch wollte ihr nicht recht schmecken, obwohl sie seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte. Die seltsame Reaktion des Mädchens und die schrecklichen Bilder, die sie am Nachmittag gesehen hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf. »Das Essen war sehr gut«, sagte sie dennoch, »vielen Dank, Martha … Tante Martha.«
»Ich glaube, wir sind alle müde«, sagte Annie,nachdem der Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült war. »Es war ein langer und aufregender Tag. Hol deine Sachen, Peggy, dann zeige ich dir deine Hütte.«
Sie traten auf die Veranda, wo Charlie in einem Schaukelstuhl saß, den zottigen Hund zu seinen Füßen, und an einer Maiskolbenpfeife zog. »Meine tägliche Friedenspfeife«, sagte er, als Peggy ihm eine gute Nacht wünschte. Er deutete mit dem Pfeifenstiel zu ihrer Hütte hinüber. »Und pass auf, wo du hintrittst, unter den Felsen im Salbei nisten sich gern Klapperschlangen ein.«
»Die beißen sich an meinen Stiefeln die Zähne aus, Charlie.« Sie zeigte ihm einen ihrer schwarzen Cowboystiefel. »Vielen Dank, dass ich bei euch bleiben darf. Ich werde euch bestimmt nicht enttäuschen.« Sie stieg von der Veranda und zögerte etwas. »Meinst du, wir bringen White Lightning durch?«
»White Lightning?«, fragte er amüsiert.
»So habe ich das Fohlen genannt. Ist das okay?«
»Aber es ist braun.«
»Und schnell wie der Blitz«, erwiderte Peggy überzeugt. »Hast du ihre langen Beine gesehen? Wenn sie groß ist, läuft sie allen Hengsten davon.«
Er lächelte. »Natürlich kriegen wir sie wieder hin. Bei einem Mädchen, das so viel von Pferden versteht wie du, und einer Frau, deren Vater mit Stutenmilch großgezogen wurde, kann doch gar nichts passieren.« Er blickte Annie an.
»Mit Stutenmilch?«, wunderte sich Peggy.
»Das stimmt tatsächlich«, berichtete Annie, als sie zum Blockhaus gingen. »Er wurde in einem Planwagen geboren, als meine Großeltern von Nevada nach Kalifornien zogen, um dort noch einmal von vorn anzufangen. Ihre kleine Ranch war von Indianern überfallen worden. Einige Jahre später kehrten sie nach Nevada zurück, aber das ist eine andere Geschichte. Sie hatten damals eine Pechsträhne. Wie gesagt, die Paiutes machten ihnen zu schaffen. Sie waren nicht so gefährlich wie die Komantschen oder Apachen, aber als Rinderdiebe waren sie unübertroffen. Noch dazu kam ein Teil unserer Rinder in einem heftigen Sandsturm um. Die Lage war so ernst, dass die Bank meinem Großvater keinen Kredit mehr geben wollte.«
»Das ist ja furchtbar«, erwiderte Peggy. Viele Familien hier im amerikanischen Westen wussten solche Geschichten über ihre Vorfahren zu erzählen, und es war immer wieder erstaunlich, wie die Menschen im Wilden Westen es geschafft hatten, bei diesen großen Gefahren und Schwierigkeiten zu überleben.
»Unterwegs auf dem Trail wurde es nicht besser«, fuhr Annie fort. »Sie blieben mit ihrem Planwagen in der Wüste hängen, ein gebrochenes Rad, soweit ich mich erinnern kann, und verloren wertvolle Zeit. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt musste meine Großmutter ihr Baby bekommen. Das Baby war mein Pa. Sie tauften ihn Joseph, aber die ganze Welt nannte ihnJoe. Seine Überlebenschancen waren ziemlich gering. Die Vorräte waren knapp, das Wasser ging zur Neige, und daher
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