Wilde Rosen: Roman (German Edition)
Fischerhemd. Die Kleidung paßte wunderbar zur Farbe ihrer Augen, und ihre Haut war rein und frisch und ungeschminkt. Sie hätte dreißig oder fünfzig sein können, eine reiche Erbin oder eine arme Studentin.
Eine Margarinedose, die mit einer grauen Masse gefüllt war, Reis, vermutete Harriet, enthielt ihre Pastellstifte. Sie protestierte nicht und redete nicht, wenn die Position geändert wurde, sondern machte einfach mit der nächsten weiter, griff in die Dose, ohne darauf zu achten, welche Farbe sie erwischte. Entweder war sie höllisch begabt, oder sie hatte höllisch starke Nerven. Harriet hatte den Verdacht, daß ersteres der Fall war, und versuchte, nicht allzu neidisch auf die Arbeitsmaterialien der Frau zu sein. Talent war das einzige, was zählte, und wenn man das nicht besaß, nützte auch die teuerste Ausrüstung nichts.
Ihr Magen schlingerte in einem neuen Anfall von Nervosität. Was, wenn sie überhaupt kein Talent hatte? Was, wenn Leo Purbright dachte, sie tauge nur zum Modell und als Putzfrau?
»Entspannen Sie die Wangenmuskeln«, sagte Leo. »Jetzt ist es nicht mehr lange.« Harriet mobilisierte ihre letzten Reserven. »Besser«, sagte Leo. »Sie sehen nicht mehr so gequält aus.« Er sah auf die Uhr. »Das reicht, meine Damen. Als nächstes versuchen wir uns an einer sitzenden Position.«
Harriet kletterte steif vom Tisch herunter und ließ sich in einen nahen Stuhl fallen. Sie beschloß, ihre unfreiwillige Untätigkeit zu nutzen, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Leo schritt mit entschlossener Miene auf sie zu, und sie war sicher, er werde ihre Position zu einer weitaus weniger bequemen Haltung ändern. Statt dessen holte er eine Rolle Schnur aus seiner Tasche, nahm ihre Hand und knotete ein Ende um ihr Gelenk. Seine Finger fühlten sich warm und kräftig auf ihrer Haut an, und sie war überzeugt, er müsse ihren Puls spüren, der wahre Sprünge vollführte. Als er ihre Hand auf ihr Knie zurücklegte, glaubte sie, den Druck seiner Berührung immer noch zu spüren. Ihre Nervosität hatte sie wohl übersensibel gemacht.
Er führte die Schnur zur Wand hinter ihr und befestigte sie mit einer Stecknadel. Dasselbe machte er mit einem Knöchel, beiden Knien und knotete schließlich eine zweite Kordel an ihr Handgelenk, die er in entgegengesetzter Richtung von der ersten wegführte. Als er beiseite trat, war ihr Körper praktisch von den Schnüren gevierteilt.
»Das soll Ihnen erleichtern zu erkennen, in welchem Verhältnis die Linien des Körpers zueinander und zum Stuhl stehen. Das perspektivische Zeichnen wird dadurch einfacher. Zeichnen Sie die Schnüre mit ein, und dann sehen wir, was passiert.«
Harriet beobachtete, wie er langsam die Runde machte, hinter jeder Staffelei kurz stehenblieb, leise Anmerkungen machte, hin und wieder einen Kohle- oder Pastellstift zur Hand nahm und ein paar Striche zog. Sein Rundgang hatte dieselbe Wirkung auf die Frauen wie ein Löwe auf eine Herde friedlich grasender Gazellen. Wäre er genauso löwenartig, überlegte Harriet, wenn sein Name Wilfred wäre?
Ihre Haltung mochte entspannt sein, aber Harriet selbst war alles andere, als sie Leo zu ihrer Mappe schlendern sah. Sie wünschte, sie hätte den Blick auf eins der Fenster gerichtet und müßte nicht zusehen, wie er die Mappe hochhob, die aus Schnürsenkel gebastelten Bänder löste und den mit Geschenkpapier beklebten Pappdeckel öffnete.
Stück für Stück wurden ihre Werke hervorgezogen, begutachtet, zurückgelegt. Das Aktbild von Sally betrachtete er einen Moment länger, aber er sagte kein Wort und schenkte ihr auch kein beruhigendes Lächeln.
»Wir machen jetzt Pause«, verkündete er. »Und während Sie Ihren Kaffee trinken, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
Harriet erhob sich von ihrem Stuhl und fühlte sich steif und uralt. Sie fragte sich, ob sie eine Thermoskanne hätte mitbringen müssen. Sie war schrecklich durstig.
Eine der Frauen hatte ein Einsehen. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse von meinem Kaffee? Er ist schwarz. Mit Zucker.«
Harriet trank ihren Kaffee gewöhnlich mit Milch und ohne Zucker, aber sie nahm dankbar an.
»Ich habe mal für Leo Modell gesessen und bin beinah dabei verhungert. Sie sind ein wunderbares Modell«, sagte die Frau. »So reglos.«
Harriet lächelte.
»Wenn ich nur stillhalten könnte, würde ich selbst hier Modell sitzen. Wenigstens flüstert Leo Ihnen keine sarkastischen Bemerkungen ins Ohr.«
Harriet schauderte. »Nein ...« Sie ruckte ihr Kinn in
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