Wilde Rosen: Roman (German Edition)
Neffe ..., ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken ... jedenfalls, er ist ganz verzweifelt und sagte, er werde bezahlen, ganz gleich, was es kostet. Ich wollte Mr. Slater anrufen, aber es wäre doch viel schöner, wenn Ihre neue Firma den Kunden bekommen würde.«
»Da haben Sie recht. Und möchte der Neffe, daß ich mich gleich an die Arbeit mache?«
»Wann immer es auskommt. Ich habe Sie zwar erwähnt, aber ich wollte nichts versprechen, ehe ich mit Ihnen geredet habe.«
Sally sah auf die Uhr. Sie mußte auch noch Harriets Auftrag mit übernehmen, aber das war nur eine kleine Junggesellenwohnung, viel mehr als die Mülleimer zu leeren und die Bettwäsche zu wechseln war da nicht zu tun.
»Ich könnte schnell nach oben laufen und mir die Wohnung ansehen, wenn ich hier fertig bin, damit ich mir ein Bild davon machen kann, was getan werden muß.« Sally war verwundert und gleichzeitig erfreut, so geschäftstüchtige Worte aus ihrem Munde zu hören.
»Das wäre wunderbar, Sally. Er sagte, es sei wirklich dringend.«
Als sie die Tür zur oberen Wohnung öffnete, wünschte Sally inbrünstig, sie hätte sich nicht darauf eingelassen. Die Wohnung erinnerte an die Szene in Charles Dickens’ Große Erwartungen, wo Pip Miss Haversham trifft. Alles war vollkommen verdreckt. Der Staub ungezählter Jahre lag auf ebenso altem Fettschmier, und das Ergebnis war ein hartnäckiger Schmutzbelag, der Harriet und ihr ganzes Können erforderte. An manchen Stellen war die Fettschicht dünner und gelblich verfärbt und dafür mit Fliegendreck besprenkelt.
In einer Ecke der Küche stand ein Kühlschrank, der wie ein Motorrad im Leerlauf knatterte und als einziges Möbel einen gewissen Realitätsbezug zu haben schien, selbst wenn seine gerundete, gelblichweiße Tür auf ein Fünfziger-Jahre-Modell hindeutete. Sally öffnete sie und entdeckte eine Flasche Milch, einen kleinen Laib Brot und ein Gefrierfach, das zu einem festen Eisblock geworden war. Brot und Milch stammten vermutlich aus der Zeit vor dem Tod des alten Herrn, und Sally schloß den Kühlschrank hastig wieder.
Als nächstes riskierte sie einen vorsichtigen Blick ins Schlafzimmer. Ein Schlafsack lag auf einer nackten, gestreiften Matratze, die irgendwie flohverseucht aussah. Sally ging auf, daß der Neffe offenbar in dieser Wohnung hauste. Sie schauderte. Es war einfach widerlich.
Das Bad war schlimmer als Küche und Schlafzimmer. Sie glaubte nicht, daß es im Waschraum einer Rugbymannschaft nach dem Match so furchtbar riechen konnte. Sie floh und hoffte, daß die Wohnräume in besserem Zustand wären.
In den anderen Zimmern waren die Vorhänge geschlossen. Sie erkannte das Eßzimmer an der unverwechselbaren Geruchsmischung aus eingestaubtem Tischtuch und Portwein. Die Wohnzimmermöbel waren mit großen Tüchern abgedeckt, offenbar hatte Mr. Flowers den Raum nicht genutzt. Das letzte Zimmer war seine Bibliothek.
Ledergebundene Wälzer mit unlesbaren Titeln standen hinter Glas in hohen Regalen, die eine ganze Wand bedeckten. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch mit lederbezogener Platte, an der dritten Wand eine große Couch, seltsamerweise mit dem Rücken zum Raum. Ein schwacher Geruch von Zigarrenrauch hing in der Luft, und mochte der Raum auch genauso verstaubt sein wie der Rest der Wohnung und vermutlich Wohnstatt für ein ganzes Heer von Spinnen, wirkte der Schmutz hier doch eher oberflächlich, als brauche man vielleicht nicht unbedingt Hammer und Meißel, um ihn zu entfernen.
Sie ging zum Fenster hinüber und zog einen der braunen Samtvorhänge zurück. Eine gewaltige Staubwolke puffte heraus, und als Sally aufhörte zu husten, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Alles Blut wich mit einem Schwall aus ihrem Kopf, ihr wurde schwindelig vor Schreck. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber ihre Kehle war wie blockiert. Sie stand reglos, die eine Hand in den Vorhang gekrallt und lauschte.
Da war es wieder. Ein Art schnaufendes Grunzen, ein grauenvoller Laut, den nur eine Seele in größter Qual von sich geben konnte. Vielleicht war ja Onkel Flowers hier bei ihr, zurückgekehrt aus dem Grabe in einem wurmzerfressenen Leichenhemd, darüber ein Schädel mit leeren Augenhöhlen. Das Schnaufen ging allmählich in eine Art Knurren über, und Sallys ganzer Körper war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Sie mußte sich in Bewegung setzen, die Tür erreichen und fliehen. Die Zeit schien sich endlos auszudehnen. Als seien Jahre vergangen, seit sie den
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