Wilde Rosen: Roman (German Edition)
sie für diese schwere Stunde zu stärken. Sie überwand ihre Schüchternheit. »Könnte ich wohl vorher einen Kaffee bekommen?«
Leo zog fragend eine Braue hoch. »Natürlich, bedienen Sie sich.« Er lächelte höflich, aber sie hatte das Gefühl, daß er sie ganz genau durchschaute. Sie floh in die Küche.
Die Hände um ihren warmen Kaffeebecher gelegt, betrat sie kurz darauf das Studio. Leises Gemurmel schlug ihr entgegen. Leos Schüler waren ausnahmslos weiblichen Geschlechts. Sie bauten ihre Staffeleien auf, spannten Papierbögen ein und zogen farbbespritzte Hemden über. An der Stirnseite des Raums stand ein niedriger Tisch vor einem als Vorhang drapierten Tuch. Daneben stand Leo und wartete ohne viel Geduld auf Harriet.
»Gut. Steigen Sie einfach auf den Tisch, und dann fangen wir an.«
Mit zitternden Knien kletterte Harriet auf den Tisch und überlegte, ob ein Anfall von Höhenangst der Grund für ihren plötzlichen Schwindel war oder Schlafmangel oder einfach nur ihre Angst davor, was Leo von ihrer Arbeit halten mochte. Sie sah ihre Mappe an der Wand lehnen, bislang ungeöffnet.
Leo wandte sich seinen Schülerinnen zu, die sofort ihr Gemurmel einstellten und ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenkten.
»Das hier ist Harriet. Es wird Zeit, daß wir uns der Darstellung des menschlichen Körpers zuwenden, und sie wird uns heute Modell sitzen. Wenn sie sich an uns gewöhnt hat, werden wir sie vielleicht überreden können, sich auszuziehen, so daß wir etwas über Aktmalerei lernen können. Aber wir wollen behutsam anfangen mit Zwei-Minuten-Posen.«
»Zwei Minuten!« Hinter jeder Staffelei regte sich Protest. »Was soll man in der kurzen Zeit zustande bringen?«
»Sie werden überrascht sein. Ihre Hand und die Augen müssen zu einer Einheit werden, gleichzeitig arbeiten, ohne Denkpausen dazwischen.« Erwartungsvoll sah er zu Harriet.
Ergeben legte sie die Hände in den Nacken, als wolle sie sich ausgiebig strecken.
»So ist es gut«, sagte Leo. »Füße auseinander, Kopf zurück. Die Ellbogen etwas höher. Können Sie das jetzt halten?«
»Sicher«, sagte Harriet, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie lange sie die Position durchhalten würde.
»Sehr schön. Können alle sehen? Also, Sie haben zwei Minuten. Sie müssen nicht den ganzen Körper zeichnen, aber achten Sie darauf, daß die Teile, die Sie aufs Papier bringen, die richtigen Proportionen haben.«
Während die Schülerinnen zeichneten, begannen Harriets Arme vor Anstrengung zu zittern.
»Die Zeit ist um!«
Sie glaubte, einen erleichterten Stoßseufzer ihrer Muskeln zu hören, als sie die Arme sinken ließ, und sie ertappte Leo bei einem amüsierten Blick in ihre Richtung.
»Selbst zwei Minuten können einem in mancher Position sehr lang vorkommen. Ziehen Sie die Strickjacke aus, und stellen Sie sich so hin.«
Er verbog ihre Gliedmaßen, als sei sie eine Schaufensterpuppe, und brachte sie schließlich in eine Haltung, die interessant für die Schüler und erträglich für Harriet war.
»Künstler sehen in ihren Modellen keine Menschen, sondern lediglich Objekte«, erklärte er ihr. »Wenn Sie eine Position einnehmen, die ihr Interesse weckt, werden sie Sie zeichnen, ganz gleich ob Sie Krämpfe davon kriegen.«
Harriet lächelte angestrengt.
»Also. Alle sollten jetzt schön gelockert sein. Noch eine Position, und dann werde ich herumkommen und sehen, was Sie gezeichnet haben.«
Harriet spürte die zunehmende Anspannung der Frauen, als er das sagte. Sie studierte die Kursteilnehmerinnen ebenso wie umgekehrt. Die meisten sahen so aus, als seien sie noch auf der sicheren Seite der vierzig und hätten keineswegs die Absicht, ans andere Ufer zu wechseln. Was die Natur ihnen vorenthalten hatte, war mit Geld und kosmetischem Geschick wettgemacht. Harriet beneidete sie um ihren Chic und ihr Selbstvertrauen. Und vor allem um ihre Farben und Pinsel. Mit dem, was sie hier aufgefahren hatten, ließe sich ein Laden für Künstlerbedarf eröffnen, dachte sie. Polierte Holzkistchen mit Schubladen, die Farben von einem Ende des Spektrums zum anderen enthielten, Tuben oder kleine Einsätze mit Aquarellfarben, Picknickkörbe voller Gouachetuben oder Ölfarben, bündelweise Pinsel, Kohlestifte im Überfluß – alles, was ein Künstler sich nur wünschen konnte.
Eine der Frauen unterschied sich deutlich von den übrigen. Sie hatte nichts gegen das Grau ihrer Haare unternommen, war auffallend dürr, trug ausgebleichte Blue jeans und ein marineblaues
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