Wilde Rosen: Roman (German Edition)
Zweifel, ob Sie wirklich an meinem Kurs teilnehmen wollen, was?« Harriet, die mit außergewöhnlichem Interesse auf ihre Fußspitzen gestarrt hatte, hob den Kopf. »Sie sind ein anständiges Mädchen, und Sie sind beunruhigt bei dem Gedanken, sich mit einem Künstler einzulassen, der vielleicht Ihre Wertvorstellungen durcheinanderbringt und der will, daß Sie sich ausziehen?«
Er machte sich nicht über sie lustig. Aber seine Augen, seltsam hell im Kontrast zu den schwarzen Wimpern und Brauen, schienen die Geschichte ihres Lebens zu lesen: die Kindheit in dem kleinen Dorf, ihre angesehenen, dominanten Großeltern, die Gnadenlosigkeit, mit der sie in die Form eines »anständigen Mädchens« gepreßt worden war. Er urteilte nicht, er beobachtete nur.
Harriet räusperte sich. »Natürlich beunruhigt mich die Vorstellung, ein Aktmodell zu sein. Ich hab’ das noch nie gemacht, und in Ihrem Studio ist es eisig kalt. Außerdem dachte ich, Ihre Schülerinnen malen Blumenstilleben.«
»Meine Schülerinnen tun, was ich ihnen sage. Aber ich bin kein Tyrann, Sie müssen nichts tun, was Ihnen unangenehm ist.«
»Na ja ...«
»Hören Sie, bringen Sie morgen einfach Ihre Mappe mit, und wenn Ihre Sachen etwas taugen, nehme ich Sie in die Gruppe. Und Sie können bezahlen, indem Sie uns Modell sitzen, wir fangen ganz harmlos an, mit Detailstudien, jede Pose zehn Minuten, voll bekleidet, Heizung an.«
Welche Mappe, dachte Harriet am Rande einer Panik. »Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mag zwar kein Tyrann sein, aber niemand, der mich kennt, würde auf die Idee kommen zu behaupten, ich sei freundlich. Also, bis morgen.«
Kapitel 10
H i! Wo bist du gewesen? Was um Himmels willen schleppst du denn da mit dir herum?«
Harriet wankte in Sallys Wohnung, schwer beladen mit allen möglichen Utensilien: Farbtuben, Dosen mit Grundierung, großen Papierbögen, ein Bündel Pinsel.
»Du mußt mir helfen, Sally. Bis morgen früh um zehn brauch’ ich eine Mappe.«
»Sag mir nur, was ich tun soll. Was meinst du mit Mappe?«
»Eine Präsentation meiner Arbeit, Zeichnungen, Skizzen, solche Sachen.«
»Aber, Harriet, ich kann nicht mal ein Strichmännchen malen!«
Harriet lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen. »Du sollst nicht malen, du Schaf. Ich brauche dich als Modell.«
Nachdem Sally begriffen hatte, was Harriet brauchte, steckte sie ihre gesamte Energie in das Projekt. Den ganzen Tag lag sie mehr oder minder spärlich bekleidet auf dem Sofa. Sie nahm verschiedene Yogapositionen ein, gab vor, einen Aufschlag zu machen, an einer Ballettstange zu trainieren, alles, worum Harriet sie bat. Wenn sie steif wurde vom langen Stillhalten, grundierte sie die großen Blätter mit der weißen Emulsion und überließ Harriet einem Stilleben aus einer schwarzen Banane, einer unreifen Kiwi und einer halben Flasche Perrier.
Harriet mußte ihre ordentliche, methodische Vorgehensweise, die sie sich beim Aquarellmalen anerzogen hatte, über Bord werfen. Die Zeit war knapp, und ihr enormes Arbeitstempo zwang sie zur Verwegenheit. Rasche, geschwungene Linien entstanden, während ihre Hand über den weißen Bogen zu fliegen schien, dicke Blöcke weißer Kreide schufen Lichtinseln auf schwarzem Untergrund, es war wie ein Wahn der Kreativität. Als May abends kam, legte Harriet den Pinsel für einen Moment beiseite.
»Von heute an sind wir stolze Besitzer eines Handys mitsamt Telefonnummer«, verkündete May.
»War’s sehr teuer?« Harriet schmierte sich mit dem Handrücken Farbe ins Gesicht, ohne es zu merken.
»Nein, es ist im Rahmen, so lange wir es nicht benutzen. Eingehende Anrufe kosten auch, nicht nur die, die wir selber machen, aber vermutlich ist es auf jeden Fall das Beste, Telefonzellen zu benutzen, wenn wir können.«
»Vorläufig haben wir ja noch Piers’ Telefon«, erinnerte Sally sie.
Harriet nickte, in Gedanken schon wieder mit ihrem Gemälde beschäftigt. Sie machte keine Zeichnungen im Akkordtempo mehr, sondern malte mit Acrylfarben an einer Komposition aus den vielen Skizzen, die sie von Sallys nacktem Körper hatte, ein paar Früchten und einer Katze, die sie aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte und die, wenn sie ehrlich war, ein bißchen wie eine Eule aussah.
Sally überredete sie, eine Pause einzulegen und etwas zu essen. May bewunderte ihre Arbeit, und beide versorgten sie in regelmäßigen Abständen mit Wein. Schließlich ging May nach Hause und Sally ins Bett. Um
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