Wilde Saat
Schmerzen verschwanden umgehend, und Isaak fühlte sich befreit und erleichtert. Er war ihr sehr dankbar und fuhr mit ihr nach New York City. Dort durfte sie sich ein paar herrliche Kleider aussuchen. Die Schneiderin, eine schwarze Freigelassene, starrte sie voll unverhohlener Neugier an, während Anyanwu ihre Wünsche äußerte. Dann u n terbrach die Schneiderin sie.
»Du bist die Onitsha-Frau, nicht wahr?« fragte sie Anyanwu in ihrer Muttersprache und lächelte, als sie Anyanwus Überraschung bemerkte. »Geht es dir gut?«
Anyanwu war glücklich. Sie hatte eine Frau aus ihrer Heimat, vielleicht sogar eine Verwandte getroffen. Es war für sie das schönste Geschenk, das Isaak ihr machen kon n te: eine neue Freundin. Isaak war immer gut zu ihr gew e sen. Er durfte jetzt nicht sterben und sie allein zurückla s sen.
Doch diesmal schien die Arznei, die ihm sonst immer geholfen hatte, unwirksam zu sein. Leichenblaß lag er auf dem Boden. Seine Haut war schweißbedeckt, und sein Atem ging keuchend. Als sie sich von ihm löste und den Kopf hob, schlug er die Augen auf. Anya n wu schaute ihn ratlos an, sie wußte nicht mehr, was zu tun war. Sie hatte bei ihren Exp e rimenten so oft ihr Leben riskiert, um ihm zu helfen, sie war immer so behutsam und vorsichtig gewesen bei ihren B e mühungen, Isaak dem Leben zu erhalten. Und nun hatte die arme Nweke alles zunichte g e macht.
»Nweke?« flüsterte Isaak, als habe er ihre Gedanken g e hört.
»Ich weiß es nicht«, sagte Anyanwu. Sie blickte im Zimmer umher, und ihr Blick fiel auf das zerwühlte Fede r bett. »Sie schläft.«
»Das ist gut.« Seine Stimme war nur ein Hauch. »Ich fürchtete, ich hätte sie verletzt. Ich träumte …«
Wenn er starb, hatte Nweke ihn getötet. Sie hatte ihn g e tötet in ihrem Wahnsinn, und er machte sich Sorgen, sie verletzt zu haben. Anyanwu schüttelte den Kopf. Verzwe i felt jagten sich ihre Gedanken. Was konnte sie noch tun? Bei all dem Wissen, das sie besaß … es mußte doch etwas g e ben …
Trotz seiner Schwäche gelang es ihm, ihre Hand zu e r greifen. »Ich bin nicht der erste Mann, den du ve r lierst«, sagte er.
Anyanwu begann zu weinen.
»Ich bin alt, Anyanwu. Mein Leben war lang und glüc k lich.« Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz. Es war Anyanwu, als bohre sich ein Messer in ihre Brust.
»Leg dich zu mir«, bat Isaak. »Leg dich ganz dicht n e ben mich!«
Sie gehorchte unter Tränen.
»Du kannst nicht wissen, wie sehr ich dich immer g e liebt habe«, murmelte er.
Die Stimme versagte Anyanwu. Sie schluckte mü h sam, dann flüsterte sie: »Mit dir war es so, als hätte ich nie einen anderen Mann gehabt.«
»Du mußt leben«, sagte er. »Du mußt dich mit Doro versöhnen. Mach deinen Frieden mit ihm!«
Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Sie schwieg.
Mühsam fuhr er fort, er gebrauchte die Worte ihrer Mu t tersprache. »Er wird jetzt dein Mann sein. Beuge dein Haupt, Anyanwu! Lebe!«
Es waren seine letzten Worte. Noch einige lange A u genblicke der Qual, bevor er das Bewußtsein ve r lor und starb.
X
Unsicher war Anyanwu aufgestanden, als Doro mit e i nem Tablett voller Speisen ins Zimmer trat. Sie stand neben dem Bett und starrte fassungslos auf Nwekes blutigen Leichnam. Doro stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch in ihrer Nähe, aber Anyanwu schien ihn nicht wahrzune h men. Er setzte zu der Frage an, warum sie sich nicht um Isaak kümmere, aber im gleichen Moment, da er an Isaak dachte, sa g te ihm sein Wahrnehmungsvermögen, daß er tot war.
Dieses Wahrnehmungsvermögen hatte ihn noch niemals betrogen. In den vergangenen Jahren konnte er eine Anzahl von Menschen davor bewahren, lebendig begraben zu we r den, so sicher funktionierte diese Fähigkeit. Er warf sich neben Isaak auf die Knie und legte seine Hand auf dessen Hals, um nach dem Puls zu tasten, aber es gab kein L e benszeichen mehr an Isaaks Körper.
Anyanwu wandte sich zu Doro und sah ihn au s druckslos an. Sie war jung. Bei der Wiederherstellung ihres fast vö l lig zerstörten Körpers hatte sie sich in ihre eigentliche G e stalt zurückverwandelt. Sie sah aus wie ein Mädchen, das seinen Großvater und se i ne Schwester betrauert, nicht wie eine Frau an der Leiche ihre Mannes und ihrer Tochter.
»Er wußte es nicht«, flüsterte sie. »Er glaubte, es sei nur ein Traum gewesen, daß er sie verletzt hat.«
Doro blickte zur Decke auf, wo Nwekes Körper bl u tige Flecke hinterlassen hatte. Anyanwu folgte se i nem Blick, dann senkte
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