Wilde Saat
geflohen, und Flüchtende pflegte er zu töten. Hatte er ihr nur deshalb erlaubt, sich e t was überzuziehen, damit er sich die Unbequemlichkeit er s paren konnte, einen unbekleideten Körper zu überne h men?
Was konnte sie tun?
Als Anyanwu den Salon betrat, unterhielten sich Doro und Stephen wie zwei alte Freunde. Zu ihrer Verwund e rung erhob sich Doro aus seinem Sessel. Fr ü her hatte er kaum Wert auf Höflichkeit gelegt. Sie nahm neben Stephen auf dem Sofa Platz und bemerkte eher beiläufig, wie z u friedenstellend sich die Arme des Jungen entwickelten. St e phen war ein prachtvoller Junge. Er hatte sich an jenem schreckl i chen Tag, an dem er den Unfall erlitt, so souverän und vorbildlich verhalten.
»Geh wieder an deine Arbeit«, sagte sie mit sanfter Stimme zu ihm.
Er sah sie erstaunt an.
»Geh!« wiederholte sie. »Ich bin nun hier!«
Kein Zweifel, er hielt es für besser, zu bleiben, denn sie hatte ihm zu viel von Doro erzählt. Doch schließlich g e horchte er.
»Ein guter Junge«, bemerkte Doro und nahm einen Schluck Brandy.
»Ja«, stimmte sie ihm zu.
Er schüttelte den Kopf. »Was soll ich mit ihm machen, Anyanwu? Was soll ich mit dir machen?«
Sie antwortete nicht. Wann hatte es jemals eine Rolle gespielt, was sie zu ihm gesagt hatte. Er tat sowieso nur das, was er für richtig hielt.
»Du hast mehr Erfolg gehabt als ich«, meinte er. »Dein Sohn macht einen sehr beherrschten Eindruck, scheint se i ner selbst sehr sicher zu sein.«
»Ich habe ihn gelehrt, den Kopf hoch zu tragen«, erw i derte sie.
»Ich meinte seine Fähigkeit.«
»Ich weiß.«
»Wer war sein Vater?«
Sie zögerte. Sie hatte mit der Frage gerechnet, natü r lich. Sie wußte, er würde nach den Vorfahren ihrer Kinder fr a gen wie nach dem Stammbaum eines Ra s sepferdes. »Sein Vater stammt aus Afrika. Er kam illegal hierher«, sagte sie. »Er war ein guter Mann, aber … in vielen so wie Thomas. Er vermochte sich nicht zu schützen vor dem, was auf ihn einstürmte.«
»Und er überlebte die Überfahrt auf einem Sklave n schiff?«
»Nur ein Teil von ihm. Als er hier ankam, war er dem Wahnsinn nahe. Aber er war lernfähig. Er war wie ein Kind. Die Sklavenhändler wollten mir einr e den, er mache diesen eigenartigen Eindruck nur, weil er die englische Sprache noch nicht beherrschte. Sie zeigten mir seine Mu s keln, seinen herrlich gewac h senen Körper – ich trug die Gestalt eines Mannes, als ich ihn zum erstenmal sah.«
»Ich verstehe.«
»Sie zeigten mir seine Zähne, seine Hände, seinen Penis, und sie wiesen darauf hin, was für ein ausgezeichneter B e schäler er sei. Diese Männer würden dir gefallen haben, Doro. Sie dachten genauso wie du.«
»Das bezweifle ich«, meinte er liebenswürdig. Er strah l te fast vor Liebenswürdigkeit , wie Anyanwu erstaunt fes t stel l te. Er befand sich im ersten Stadium – versuchte, sie für sich einzunehmen, so wie er es getan hatte, als er sie von ihrem Volk wegholte. Ta t sächlich, von seiner Sicht aus verhielt er sich äußerst generös und großzügig. Sie war vor ihm geflohen, hatte etwas fertiggebracht, was niemandem gelungen war. Sie hatte sich ihm entzogen, viele Me n schena l ter lang – doch anstatt sie auf der Stelle zu töten, schien er noch einmal mit ihr beginnen zu wollen. Er gab ihr die Chance, ihn noch einmal anzunehmen, als wäre nichts geschehen. Das hieß, er hatte vor, sie am Leben zu lassen – wenn sie sich ihm u n terwarf.
Das Gefühl der Erleichterung, das sie durchdrang, e r schreckte sie. Sie war die Treppe hinuntergestiegen in der Erwartung, zu sterben. Sie hatte mit dem Leben abg e schlossen, und nun fand sie einen Mann, der ihr aufs neue den Hof machte. Doch nicht nur das! Doro machte ihr nicht nur wider alles Erwarten ein Friedensangebot, sie selbst schien auch bereit zu sein, es anzunehmen!
Nein! Nicht wieder! Nicht noch ein zweites Whea t ley!
Aber was dann?
»Du kauftest also einen Sklaven, von dem du wußtest, daß er krank war. Du kauftest ihn, weil er Fähigkeiten b e saß, die dich interessierten«, unterbrach Doro ihre Geda n ken. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich genau das gle i che getan habe.«
»Ich habe ihn in New Orleans gekauft, weil er mich an s prach, als man ihn in Ketten an mir vorbei in die Sklave n bunker trieb. Er sagte: ›Anyanwu, bedeckt diese weiße Haut auch deine Augen?‹«
»Er sprach englisch?«
»Nein, er war ein Mann meines Volkes. Kein Verwan d ter von mir, glaube ich. Dafür war er zu
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