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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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wird denken, ich sei endlich tot«, meinte sie und starrte nachdenklich auf die Götterfiguren. »Vie l leicht werden sie mir einen Schrein errichten und ihm me i nen Namen geben. Andere Städte haben das gemacht. Und in den Nächten, wenn die Schatten tanzen und der Wind die Zweige der Bäume bewegt, können sie einander erzä h len, mein Geist sei ihnen erschienen.«
    »Ein Schrein, in dem dein Geist wohnt, wird ihnen lange nicht so viel Angst einflößen, wie es die l e bende Anyanwu tut, vermute ich.«
    Mit einem wehmütigen Lächeln schritt Anyanwu vor ihm her durch das Hoftor. Sie traten den Weg durch ein Labyrinth von Fußpfaden an, die so schmal wa r en, daß sie die meiste Zeit hintereinander gehen mußten. Anyanwu trug ihren Korb auf dem Kopf. An ihrer Seite baumelte in einer Scheide das Busc h messer. Beide waren barfuß, und der Staub zwischen den hohen Bäumen verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Es gab nichts, das Anyanwus h o chentw i ckeltes Gehör beeinträchtigte. Einige Male verhielt sie lauschend. Dann verließen sie den Pfad und ve r steckten sich in den Büschen, um nicht von den Menschen gesehen zu werden, die ihnen entgegenkamen. Meist waren es Gruppen von Frauen und Kindern mit Wasserkrügen und Brennholzbündeln auf dem Kopf. Auch Männer mit H a cken und Buschmessern waren unterwegs. Es war, wie Anyanwu gesagt hatte: Sie befanden sich mitten in ihrer Stadt und waren umgeben von zahlreichen Ortschaften. Ein E u ropäer würde nichts von einer Stadt bemerkt haben, da es fast kaum Häuser oder Hütten zu sehen gab. Doch auf seinem Weg zu Anyanwu hatte Doro viele Dörfer durc h wandert, war an großen und kleinen Gehöften vorüberg e kommen. Manchmal hatte er sie dreist und unerschrocken durchquert, so als hätte er ein Recht dazu. Glücklicherwe i se hatte niemand ihn bedroht, da er zielbewußt und en t schlossen se i nen Weg verfolgt hatte. Wenn er sich dagegen als Fremder vor den Leuten versteckt oder den Eindruck erweckt hätte, herumzuspionieren, w ä re es gewiß zu einer Katastrophe gekommen. Wä h rend Doro hinter Anyanwu herging, beschlich ihn die Sorge, daß es Verdruß geben könnte, weil er vielleicht den Körper eines ihrer Verwan d ten trug. Er war erleichtert, als sie ihm sagte, daß sie das Territ o rium ihres Volkes hinter sich gelassen hatten.
    Nun konnte Anyanwu belebtere Wege benutzen. Auch hier kannte sie sich aus. Sie hatte entweder früher einmal in diesem Gebiet gewohnt, oder eine ihrer Töchter wohnte jetzt hier. Einmal erzählte sie Doro von einer Tochter, die einen gutaussehenden, starken, aber faulen jungen Mann geheiratet hatte, ihm dann jedoch fortlief, um mit einem ganz unansehnlichen, aber strebsamen Mann zusammenz u leben. Er hörte ihr eine Weile zu, dann fragte er: »Wie vi e le deiner Kinder haben das Erwachsenenalter erreicht, Anyanwu?«
    »Alle«, antwortete sie voller Stolz. »Alle waren g e sund und kräftig, und keins von ihnen trug einen verbotenen Makel an sich.«
    Kinder mit einem verbotenen Makel – Zwillinge zum Beispiel, Säuglinge, die mit den Füßen zuerst oder mit Zähnen zur Welt kamen, die mit irgendwelchen Mißbi l dungen behaftet waren – wurden weggeworfen und ve r scharrt. Einige von Doros besten Zuchtrassen aus früheren Kulturen übten den Brauch, solche Kinder auszusetzen und dem Tod zu übergeben.
    »Du hattest siebenundfünfzig Kinder, und keins von i h nen besaß einen Makel? Und sie alle leben noch?«
    »Keinen körperlichen Makel zumindest. Und sie blieben alle am Leben.«
    »Sie sind die Kinder meines Volkes. Vielleicht sollten einige von ihnen und einige ihrer Nachkommen mit uns g e hen.«
    Anyanwu verhielt so abrupt den Schritt, daß er fast mit ihr zusammengestoßen wäre. »Du wirst meine Kinder in Ruhe lassen!« sagte sie bestimmt.
    Er starrte auf sie nieder – sie hatte sich noch nicht größer gemacht, obwohl sie behauptet hatte, das sei keine Schwi e rigkeit für sie – und versuchte den au f steigenden Ärger hinunterzuschlucken. Sie sprach zu ihm, als wäre er einer ihrer Söhne. Sie war sich i m mer noch nicht über die Macht im klaren, die er b e saß.
    »Ich bin hier«, sprach sie mit der gleichen selbstbewu ß ten Stimme. »Du hast mich!«
    »So, habe ich das?«
    »So sehr, wie es nur irgendeinem Mann möglich ist.«
    Er horchte auf. In ihrer Stimme lag nicht die Spur einer Drohung. Aber er stellte fest, daß sie nicht g e sagt hatte, sie gehöre ihm ganz und gar, sie sei sein Eigentum. Ihre Worte

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