Wilde Saat
bot sie sich an, ihm zu helfen.
»Du hättest mir die Hand zeigen sollen«, tadelte sie ihn. »Warum willst du unnötig leiden?«
Zweifelnd blickte er sie an. »Findest du denn hier dra u ßen die Kräuter, die du brauchst?«
Ihre Augen begegneten den seinen. »Oft genug waren Heilkräuter für mein Volk nichts anderes, als die Götter in meinem Kral. Wenn du mich gewähren läßt, kann ich dir auch ohne sie helfen.«
Er reichte ihr die geschwollene Hand.
»Es wird weh tun«, warnte sie ihn.
»In Ordnung«, sagte er.
Blitzschnell biß sie ihm in die Hand.
Er widerstand dem Schmerz und zwang sich, seine B e her r schung zu behalten. Für gewöhnlich löste plötzlicher Schmerz unweigerlich eine todbringende Reaktion in ihm aus. Sie hatte gut daran getan, ihn zu warnen. Dies war das zweite Mal, daß sie dem Tod nur um Haaresbreite entga n gen war.
Eine Zeitlang nach dem Biß unternahm sie nichts. Ihre Aufmerksamkeit schien sich ganz nach innen gekehrt zu haben. Sie antwortete auch nicht, als er sie ansprach. Schließlich ergriff sie seine Hand und führte sie wieder an ihre Lippen. Sie biß nicht zu, dennoch war die Berührung erneut mit einem heft i gen Schmerz verbunden. Dreimal spuckte sie aus, und jedesmal danach preßte sie den Mund wieder fest auf die Wunde. Zuletzt fuhr sie fast zär t lich mit der Zunge darüber. Ihr Speichel brannte wie Feuer. Dann starrte sie eine Weile unverwandt auf die Ve r letzung. Noch zweimal fügte sie ihm jenen gräßlichen, brennenden Schmerz zu. Fast augenblicklich ging die Schwellung z u rück, die Schwäche wich aus seinem Körper, und die Hand begann zus e hends zu heilen.
»Da ist etwas in deiner Hand, das dort nicht sein sollte«, erklärte sie ihm. »Lebewesen, die so klein sind, daß man sie mit dem Auge nicht wahrnehmen kann. Ich habe keinen Namen für sie, aber ich konnte sie ertasten. Ich werde wi s sen, was es ist, wenn ich sie in mich aufgenommen habe. Sobald ich weiß, worum es sich handelt, kann ich sie in mir töten. Ich gab dir ein wenig von der Widerstandskraft me i nes Körpers, damit sie dir nicht mehr schaden können.«
Winzige Lebewesen, zu klein, um sie mit den Augen wah r zunehmen, aber groß genug, um ihn zu schwächen und krank zu machen! Wenn seine Wunde nicht so rasch und sauber zu heilen begonnen hätte, er hätte ihren Worten ke i nen Glauben geschenkt. So aber wuchs sein Vertrauen zu ihr. Gewiß, sie war eine Zauberin. In jeder Kultur fürc h teten sich die Menschen vor solchen Frauen. Anyanwu würde kämpfen müssen, um am Leben zu bleiben. Sogar vernünftige Leute, die nicht an Zaubereien glaubten, wü r den sich gegen sie stellen. Und Doro, der Erzeuger solch unheimlicher Geschöpfe, begriff wieder einmal in aller Deu t lichkeit, was für ein Geschenk sie für ihn war. Nichts, niemand durfte ihm diesen kostbaren Besitz streitig m a chen.
Doch schon als er eine seiner Kontaktpersonen in der Nähe der Küste erreichte, sollte jemand den Versuch dazu unte r nehmen.
Anyanwu verriet Doro kein einziges Mal, daß sie sogar die breitesten Flüsse hätte überspringen können, die sie übe r quert hatten. Anfangs war sie der Meinung gewesen, er habe diese Fähigkeit in ihr vermutet, denn er kannte die Kraft ihrer Arme und Hände. Ihre Beine und Bauchmu s keln waren nicht weniger stark. Aber Doro war es nicht gewohnt, sich über die Fähigkeiten anderer Gedanken zu machen. Er nahm Anyanwus Körpe r kraft und ihre Gabe der Verwandlung als selbstverständlich hin. Er fragte w e der sich noch Anyanwu danach, was alles sie vermochte.
Sie schwieg, denn sie fürchtete, auch er sei in der Lage, die Felsschluchten mit den schäumenden Wa s sern einfach zu überspringen, und zwar so, daß er seinen Körper einfach am Ufer zurückließ. Sie wollte nicht, daß er einen Me n schen aus einem so nicht i gen Anlaß tötete. Während der Wanderung hatte sie seinen Geschichten gelauscht, und es hatte sich ihr der Eindruck aufgedrängt, daß ihm das Töten eines Menschen leicht von der Hand ging. Viel zu leicht – wenn seine Geschichten nicht erfunden waren. Doch glau b te sie das nicht. Sie war nicht sicher, ob er tatsächlich schon töten würde, nur um schnell über einen Fluß zu kommen, aber sie fürchtete, daß es so sein könnte. Und das war der Grund, weshalb sie sich mit dem Gedanken an Flucht zu beschäftigen begann. Plötzlich dachte sie voller Wehmut an ihr Volk, ihr Anwesen, ihr Haus …
Desungeachtet verwandelte sie sich für ihn jede Nacht in eine
Weitere Kostenlose Bücher