Wilde Saat
mehrere rotstielige Pflanzen mit gelbem Wurzelwerk ausgegraben, und Doro glaubte, sie wolle sie wegwerfen. Doch Anyanwu entfernte nur Stiele und Blätter, die Wu r zeln behielt sie zurück, säuberte sie sorgfältig von Erde und Sand und legte sie in einen bereitstehenden Korb.
»Was ist das?« wollte Doro wissen.
»Eine Medizin«, gab sie zur Antwort, »oder ein Gift, wenn die Leute nicht wissen, wie sie es verwenden mü s sen.«
»Und was machst du damit?«
»Ich trockne und zerreibe die Wurzeln, dann mische ich sie mit anderen Dingen, lasse sie in kochendem Wasser ziehen und gebe den Sud Kindern, die Wü r mer haben.«
Doro schüttelte den Kopf. »Ich meine, du könntest ihnen viel einfacher helfen, wenn du die Arznei we i ter in deinem eigenen Körper herstellst.«
»Das hier wirkt genausogut. Ich werde einigen der Fra u en zeigen, wie man einen solchen Tee herstellt.«
»Warum?«
»Damit sie imstande sind, sich und ihren Familien selbst zu helfen. Damit sie nicht mehr abhängig sind von dem, was sie meinen Zauber nennen.«
Er beugte sich zu ihr hinab, griff ihr unter das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Und weshalb sollen sie nicht mehr von deinem Zauber abhängig sein? Deine Arzneien sind wirksamer als jedes Gartenu n kraut.«
Sie zuckte die Schultern. »Es wird Zeit, daß sie lernen, sich selbst zu helfen.«
Er hob ihren Korb auf und zog sie auf die Füße. »Komm ins Haus und rede mit mir!«
»Es gibt nichts zu reden.«
»Komm trotzdem mit, und leiste mir ein wenig Gesel l schaft!« Er legte den Arm um sie und ging mit ihr ins Haus zurück.
Er wollte mit ihr in die Bibliothek, doch der Raum war von einer Gruppe jüngerer Kinder besetzt. Sie saßen im Hal b kreis auf dem Teppich und schauten wißbegierig zu einer von Anyanwus Töchtern auf, die ihnen Unterricht im Lesen erteilte. Während D o ro Anyanwu von dort wegzog, hörte er, wie einer seiner Söhne aus der Verbindung mit Susan einen Vers aus der Bibel vorlas: »Seid eines Sinnes untereinander; trachtet nicht nach Hohem, sondern we n det euch den Menschen geringen Standes zu. Seid nicht klug vor euch selbst, und erhebt euch nicht dünkelhaft vor den and e ren.«
Doro blieb stehen und schaute zurück. »Ein recht unp o pulärer und ungewöhnlicher Satz für diesen Teil des La n des«, meinte er.
»Ich lege Wert darauf, daß sie einige dieser wenigen p o pulären Sätze kennenlernen«, entgegnete Anya n wu. »Hör zu, da ist noch ein anderer: ›Du sollst e i nen Sklaven seinem Herrn nicht wieder ausliefern, wenn er sich von seinem Herrn weg zu dir flüchtete Sie leben in einer Welt, die nicht schätzt, daß sie so l che Dinge hören.«
»Du willst sie wohl zu Christen machen, wie?«
Sie zuckte die Achseln. »Die meisten ihrer Eltern sind Christen. Sie möchten, daß ihre Kinder, wenn sie lesen le r nen, die Bibel lesen. Außerdem …« Sie wandte ihm das Gesicht zu, die Mundwinkel nach unten gezogen. »Auße r dem ist dies ein christliches Land.«
Er überging ihren Hohn und führte sie in das hintere Wohnzimmer. »Christen halten es für eine schwere Sünde, wenn jemand sich das Leben nimmt«, sagte er.
»Sie halten es auch für Sünde, wenn einer dem and e ren das Leben nimmt. Und dennoch töten sie und töten!«
»Warum bist du entschlossen, zu sterben, Anyanwu?« Er hätte nie geglaubt, daß ihm diese Worte so leicht über die Lippen kommen würden. Was mochte sie von ihm de n ken? Daß es ihm gleichgültig war? Konnte sie das wirklich a n nehmen?
»Es ist der einzige Weg, dich zu verlassen«, erwiderte sie schlicht.
Sekundenlang verschlug es ihm die Sprache, dann sagte er: »Ich dachte, wenn ich jetzt bei dir bliebe, würde dir das helfen, dich an die Dinge zu gewö h nen, die ich tun muß.«
»Glaubst du, ich sei noch nicht daran gewöhnt?«
»Aber du hast sie noch nicht akzeptiert. Aus welchem Grund solltest du dir sonst den Tod wü n schen?«
»Aus welchem Grund? Aus dem einen Grund, über den wir nun schon so oft gesprochen haben: Alles um uns h e rum ist vergänglich. Nur wir beide, du und ich, bleiben. Du bist alles, was ich habe. Vielleicht sogar alles, was ich j e mals haben werde.« Langsam und müde schüttelte sie den Kopf. »Und du bist ein Schandfleck, eine Schamlosigkeit!«
Eine tiefe Falte zwischen den Augen, starrte er sie an. Nie mehr seit den Stunden in der Bibliothek hatte sie so zu ihm gesprochen. Und nie war es auf diese Weise gesch e hen, so selbstverständlich, so ohne jede Erregung. Ihre Worte ha
Weitere Kostenlose Bücher