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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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vor Doro hin. »Ich habe keine A h nung, welcher Art deine Gefühle sind«, sagte sie. »Irgendwie bin ich nicht in der Lage, das zu beurte i len. Aber wenn du auch nur etwas für sie fühlst, dann geh jetzt zu ihr!«
    »Warum?« fragte Doro.
    »Weil sie kurz davor ist, es zu tun. Sie steht nahe am Rand des Abgrundes, und ich glaube nicht, daß sie morgen früh noch einmal aufwachen wird. Wenn wir nicht sofort etwas tun, werden wir sie morgen tot in ihrem Bett finden – wie Luisa.«
    Doro erhob sich, um zu gehen. Doch Kanes Frage an Leah hielt ihn zurück.
    »Liebling, was will sie? Was will sie wirklich von ihm?«
    Leahs Blick wanderte von einem zum anderen. Sie sah, daß beide auf eine Antwort von ihr warteten. »Ich habe sie das auch schon gefragt«, sagte sie. »Sie erwiderte darauf, daß sie müde sei. Müde zum Ste r ben.«
    Ja, sie macht diesen Eindruck, dachte Doro. Sie schien ta t sächlich müde zu sein. Aber was war der Grund? Er? Aber sie hatte ihn doch immer wieder gebeten, zu bleiben, nicht fortzugehen – was er auch gar nicht vorgehabt hatte. »M ü de von was oder von wem?« fragte er.
    Leah streckte die Hände aus und blickte darauf nieder. Sie öffnete und schloß die Finger, als greife sie nach etwas; doch ihre Hände blieben leer. Sie verzog das Gesicht und riß die Augen auf, so als nähme sie Bilder und Eindrücke in sich auf, die niemand sonst zu sehen vermochte. Ein normaler Mensch hätte Leah mit Sicherheit für geistesg e stört erklärt.
    »Das einzige, was ich fühlen kann«, sagte Leah, »ist, daß sie müde ist, wenn ich an einem Platz bin, den sie kurz zuvor verlassen hat, oder noch stärker, wenn ich ein Kle i dungsstück in die Hand nehme, das sie getragen hat. Es ist ein Berühren- und Ergreifenwollen, ein Fassen und Fe s thalten, aber immer bleiben ihre Hände leer. Sie greift ins Nichts. Sie ist unsa g bar müde.«
    »Vielleicht ist es nur ihr Alter«, meinte Kane. »Vie l leicht hat es sie jetzt doch eingeholt.«
    Leah schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Sie hat keine Schmerzen, es gibt keine Anzeichen für irgendwe l che Schwächungen oder Krankheiten in ihrem Organismus. Sie ist nur …« Leah stieß einen Laut der Resignation und Verzweiflung aus – es war fast ein Stöhnen. »Ich bin nicht gut genug dafür!« murmelte sie. »Die Dinge zeigen sich mir entweder scharf und klar ohne mein Dazutun, ohne daß ich mich anzustrengen brauche, oder sie bleiben undeu t lich und verschwommen. Es war immer nur Mutter, die es ve r stand, für sich und für mich das Undeutliche deu t lich zu machen.« .
    Doro sagte nichts, er stand da und versuchte eine Erkl ä rung für dieses seltsame Ergreifenwollen, für Anyanwus Müdi g keit zu finden.
    »Geh endlich zu ihr, verdammt!« schrie Leah. Dann sa g te sie beherrschter: »Hilf ihr! Sie ist eine Heilerin, war es ihr ganzes Leben lang. Aber jetzt braucht sie jemanden, der sie heilt! Und wer anderes könnte das sein als du!«
    Doro verließ die beiden und ging zu Anyanwu hinauf. Nie zuvor war er auf den Gedanken gekommen, sie heilen zu wollen oder zu können. Aber warum nicht! Warum sol l ten die Rollen nicht vertauschbar sein! Jedenfalls würde er a l les tun, was in seinen Kräften stand, um die Heilerin zu heilen.
    Er fand sie in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte sich schon für die Nacht umgekleidet und trug ein langes Nachtg e wand. Ihr Kleid hielt sie in den Händen, um es auf einen Bügel zu hängen. Seit man ihr ansehen konnte, daß sie schwanger war, hatte sie nur noch Kleider getragen. Als Doro ins Zimmer trat, schenkte sie ihm ein warmes L ä cheln. Sie schien glücklich über sein Kommen.
    »Es ist noch früh«, sagte er.
    Sie nickte. »Ich weiß, aber ich bin müde.«
    »Ja, Leah hat es mir gerade gesagt, daß du müde bist.«
    Einen Moment lang sah sie ihn an, seufzte. »Manchmal wünschte ich, ich besäße nur ganz no r male Kinder.«
    »Du bist entschlossen … Heute Nacht …«
    »Ja.«
    »Nein!« Er durchquerte das Zimmer, faßte sie bei den Schultern, als ob sein Griff das Leben in ihr festhalten könnte.
    Sie stieß ihn von sich mit einem Kraftausbruch, wie er ihn seit Isaaks Tod nicht mehr bei ihr erlebt hatte. Er prallte gegen die Wand und wäre zu Boden gefa l len, wenn die Wand seinen Sturz nicht aufgehalten hätte.
    »Sag niemals mehr nein, wenn ich ja sage«, flüsterte sie. »Ich will nie mehr erleben, daß du mir sagst, was ich zu tun und zu lassen habe!«
    Doro unterdrückte den jäh aufsteigenden Zorn, rieb

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