Wilde Saat
Doro lächelte belustigt.
»Ja.« Sie trat auf Isaak zu, flüsterte seinen Namen und berührte die blutunterlaufene Stelle an seinem Arm. Nicht zum erstenmal wünschte sie, die Schmerzen eines anderen genauso leicht lindern zu können wie die eigenen. Sie hö r te, wie Doro für sie sprach, sah, daß der Ausdruck der Ve r ärgerung aus dem Gesicht des jungen Mannes wich. Er l ä chelte sie an; offensichtlich hatte er ihr verziehen.
»Er sagt, du seist stark wie ein Mann«, sagte Doro.
Sie lächelte. »Ich bin so stark wie viele Männer, aber das braucht er nicht zu wissen.«
»Er darf es ruhig wissen«, erwiderte Doro. »Er verfügt selbst über große Kräfte. Er ist mein Sohn.«
»Dein …«
»Der Sohn eines amerikanischen Körpers.« Doro verzog den Mund zu einem Grinsen, als habe er einen Scherz g e macht. »Ein Mischlings- und Hal b blutkörper, mit weißem, schwarzem und indianischem Blut. Indianer sind rote Vö l ker.«
»Aber er ist weiß.«
»Seine Mutter war eine Weiße. Eine Holländerin und gelbhaarig. Er kommt mehr auf sie als auf mich – äuße r lich wenigstens.«
Anyanwu schüttelte den Kopf, ihr Blick suchte die ferne Küste.
»Du hast keinen Grund, dich zu fürchten«, sagte Doro leise. »Du bist nicht allein. Ich bin da.«
»Wie kannst du wissen, was ich fühle?«
»Ich müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß du traurig bist.«
»Aber …«
»Glaubst du, du wärest die erste Frau, die ich von ihrem Volk fortgeholt habe? Ich habe dich beobac h tet, seit wir von deiner Stadt aufgebrochen sind. Ich wußte, daß diese Zeit der Traurigkeit und Schwermut für dich kommen wü r de. Unsere Art hat ein besonderes Bedürfnis, mit Verwan d ten zusammenzul e ben oder mit anderen, die sind wie wir.«
»Du bist nicht wie ich.«
Er schwieg. Darauf hatte er schon einmal geantwortet, fiel ihr ein. Offensichtlich hatte er nicht die A b sicht, zu diesem Thema noch einmal etwas zu sagen.
Sie ließ ihren Blick auf ihm ruhen, auf seinem sch ö nen, hochgewachsenen jungen Körper. »Werde ich dich eines Tages einmal sehen, wie du wirklich bist? Wie du bist, wenn du dich nicht in der Haut eines fremden Menschen versteckst?«
Einen Moment lang glaubte sie, aus seinen Augen blicke sie ein Leopard an. Ein Lebewesen, kalt und von barbar i scher Wildheit, ein Geist, der mit leiser Stimme sprach:
»Bete zu Gott, daß dies nie geschehen möge, Anyanwu. Laß mich ein Mensch für dich bleiben. Sei zufrieden mit mir als einem Mann!« Er streckte die Hand aus und berüh r te sie. Und es erstaunte sie, daß sie nicht zurückzuckte, daß sie zwar zitterte, aber nicht von der Stelle wich.
Er zog sie an sich, und überrascht stellte sie fest, wie wohl sie sich wieder in seinen Armen fühlte. Die Seh n sucht nach Hause, nach ihrem Volk, das sie bei ihrer Rüc k kehr aufs neue bedrohen würde, schwand dahin. So als ob Doro, wer immer er auch sein mochte, ihr genügte.
Nachdem Doro Anyanwu in die Kajüte geschickt hatte, damit sie nach ihrem Enkel sah, bemerkte er, wie sein Sohn ihr nachblickte – gebannt vom Schwung ihrer Hüften. »Eben habe ich ihr noch g e sagt, wie leicht es für mich ist, ihre Gedanken zu lesen«, murmelte er.
Der Junge sah ihn an. Er schien zu wissen, was jetzt fo l gen würde.
»Auch deine Gedanken sind mit Leichtigkeit zu durc h schauen«, fuhr Doro fort.
»Ich kann mir nicht helfen«, brummte Isaak. »Du sol l test dafür sorgen, daß sie nicht so unbekleidet herumläuft.«
»Du hast recht, das sollte ich wirklich. Doch jetzt reiß dich zusammen! Und sei vorsichtig. Sie ist einer der wen i gen Menschen an Bord, die dich töten könnten – so wie du einer der wenigen bist, die sie töten könnten. Und ich möchte keinen von euch beiden verlieren.«
»Ich würde ihr nie ein Leid antun. Ich mag sie.«
»Offensichtlich.« »Ich meine …«
»Ich weiß, ich weiß. Und sie mag dich auch, wie es scheint.«
Isaak schwieg, er blickte hinaus auf das blaue Wasser. Schließlich sah er Doro fast herausfordernd an. »Hast du vor, sie für dich zu behalten?«
Doro lächelte in sich hinein. »Eine Zeitlang«, erw i derte er. Isaak war einer seiner Lieblingssöhne. Ein seltener Glück s fall, dessen Kräfte und Charakter sich genau nach Doros Vorstellungen entwickelt hatten. Doro kontrollierte die Fortpflanzung der Vorfahren des Jungen schon seit e i nem Jahrtausend. Es hatte in diesem Zeitraum hervorr a gende Zuchterfolge gegeben, aber auch gefährliche und entsetzliche Fehlentwicklungen.
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