Wilde Saat
sie auf ihr Zimmer. Es hatte einen Kamin, und auf dem breiten Bett gab es wunderbar weiche Matratzen. Anyanwu zog sich aus und legte sich hin. Sie stellte fest, daß ihr Körper empfindlich auf eine bestimmte Speise reagiert hatte – e i ne, deren Namen sie nicht kannte, die ihr ungewöhnlich gut geschmeckt hatte. Diese Süßspeise auf das reichlich geno s sene Fleisch war zuviel für ihren Magen gewesen. Sie ko n zentrierte sich auf ihre Verdauung, und die Übelkeit wich. Sie brauchte sich nicht zu übergeben, es genügte, daß sie die Verbrennung beschleunigte. Anyanwu konzen t rierte sich so auf die Vorgänge in ihrem Körper, daß es den Ei n druck erweckte, als schlafe sie. Hätte sie jemand in diesem Zustand a n gesprochen, sie würde es nicht wahrgenommen haben. Und dies war auch der Grund, weshalb sie g e wartet hatte, weshalb sie mit der Heilung nicht schon unten im Speisezimmer im Beisein der anderen b e gonnen hatte. Hier war es gleichgültig, was sie tat. Nur Doro befand sich im Raum. Am gegenüberli e genden Ende des großen Zimmers saß er an einem mächtigen Eichentisch. Er schrieb, und von anderen ähnlichen Gelegenheiten wußte sie, daß er dabei Buchstaben benutzte, die sich von denen in den B ü chern unterschieden. »Es sind uralte Schriftzeichen«, hatte er ihr einmal gesagt. »Schriftzeichen einer Sprache, die so alt ist, daß niemand sie mehr ve r steht.«
»Niemand außer dir«, hatte sie geantwortet.
Er hatte genickt und gelächelt. »Die Menschen, von d e nen ich sie lernte, verschleppten mich in die Sklaverei. Damals war ich noch ein Junge. Nun sind sie alle tot. Ihre Nachfa h ren haben die alten Weisheiten vergessen, die alten Schriften, die alten Götter. Nur ich erinnere mich noch da r an.«
Anyanwu hätte nicht sagen können, ob in seiner Stimme Bitterkeit oder Genugtuung mitklang. Er war immer sehr seltsam, wenn er über seine Jugend sprach. In diesen A u genblicken weckte er in Anyanwu den Wunsch, ihn zu b e rühren, ihm zu s a gen, er sei nicht allein mit seinen dunklen Erinnerungen. Gleichzeitig jedoch verstärkte sich die Furcht vor ihm. Anyanwu vermochte seine tödliche A n dersa r tigkeit nie ganz zu vergessen. Also sagte sie nichts und schwieg.
Nun, da sie reglos auf ihrem Bett lag, die Vorgänge in ihrem Körper beobachtete und herausfand, welche Speisen und welche Bestandteile darin sie krank g e macht hatten, verspürte sie wohltuend die Nähe Doros. Sie würde es b e merkt haben, wenn er das Zi m mer verlassen hätte, und sie würde ihn vermißt h a ben. Es wäre kälter darin geworden.
Milch war die Ursache für ihr Unwohlsein gewesen. Tiermilch. Die Leute hier bereiteten sehr viele Dinge mit Tie r milch. Anyanwu bedeckte ihren Mund mit der Hand. Wu ß te Doro das? Natürlich wußte er es. Sie waren ja sein Volk.
Erneut mußte sie ihre ganze Selbstbeherrschung au f bringen, sich nicht doch noch zu übergeben – diesmal aus schierem Ekel.
»Anyanwu!«
Sofort war sie sich bewußt, daß Doro die langen T ü cher des Bettdaches auseinandergeschlagen hatte und sich über sie beugte. Und sie war sich bewußt, daß dies nicht das erste Mal in den letzten Minuten g e wesen war, daß er ihren Namen nannte. Es erstaunte sie, daß sie ihn hören konnte, obwohl er weder schrie, noch sie anfaßte. Er sprach mit völlig ruhiger Stimme.
Anyanwu öffnete die Augen und blickte ihn an. Er sah wunderschön aus vor dem warmen Schein der Kerzen im Hintergrund. Er hatte die Kleider bis auf das Tuch um seine Lenden abgelegt, wie so oft, wenn sie allein waren. Doch dies nahm sie nur mit einem Teil ihres Bewußtseins wahr. Noch immer beschäftigten sich ihre Gedanken mit der en t setzlichen Tatsache, daß man sie dazu überlistet hatte, Tiermilch zu sich zu nehmen.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?« fragte sie ihn.
»Was?« Verwirrt runzelte er die Stirn. »Was g e sagt?«
»Daß diese Leute mir Tiermilch geben würden!«
Er brach in lautes Lachen aus.
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Es kommt dir also lächerlich vor, wie? Und die anderen l a chen wohl auch jetzt hinter meinem Rüc k en!«
»Anyanwu …« Er zwang sich, den Lachreiz zu unter d rücken. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich mußte gerade an e t was anderes denken, sonst hätte ich nicht gelacht. Aber was ist denn, Anyanwu? Wir alle haben das gleiche gege s sen.«
»Aber weshalb war manches mit Milch …«
»Hör zu. Ich kenne den Brauch deines Volkes, keine Tiermilch zu trinken. Ich würde
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