Wilde Saat
erschlaffte Nwekes Körper wieder. Sie versank in eine neue Bewußtlosigkeit, um das Bewuß t sein eines anderen in sich aufzunehmen.
Nach einiger Zeit schien sie wieder zu sich zu ko m men, doch ihre weit geöffneten Augen blickten ins Leere. Sie gab schnatternde Geräusche von sich, die Doro aus Irre n häusern kannte – besonders aus so l chen, in denen Doros Leute untergebracht wurden, wenn der Übergang sie a u ßerhalb ihrer Siedlungen überraschte. Auch Nwekes G e sicht erinnerte an das einer Geisteskranken. Es war ve r zerrt, fast bis zur Unkenntlichkeit, und schweißbedeckt. Augen, Nase und Mund sonderten Flüssigkeit ab. Bedrückt stand Doro auf, um den Raum zu verlassen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er bei jedem Übergang dabeisein mußte. Damals hatte er sich noch auf keinen Menschen verlassen können. Er hä t te damit rechnen müssen, daß ein anderer den sich windenden und stöhne n den Schützling im Stich gelassen oder getötet oder mit i r gendeinem gefährlichen und unsinnigen Exorzismus ve r dorben hätte. Doch diese Zeit war lange vorüber. Nicht nur er schuf sich ein Volk, das Volk schuf sich auch selbst. Es war nicht länger mehr nötig, daß er sich um alles kümmerte und jede Kleinigkeit selbst besorgte.
Auf dem Weg zur Tür drehte er den Kopf und blickte zurück. Er sah, daß Anyanwu ihn beobachtete.
»Es ist leichter, ein Kind zu einer solchen Folter zu ve r urteilen, als dabei zuzusehen, wenn es sie erleidet, nicht wahr?« sagte sie.
»Bei deinen Vorfahren habe ich dabei zugesehen«, sagte er verärgert. »Und ich werde wieder dabei zusehen, nac h dem du längst zu Staub geworden bist.« Er wandte sich ab und verließ den Raum.
Nachdem Doro gegangen war, deckte Anyanwu das Fede r bett auf und trat zum Waschständer. Sie goß Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel und befeuchtete ein Han d tuch. Nweke hatte noch schwere Stunden vor sich. Armes Mädchen! Die Nacht würde lang und furchtbar werden. Anyanwu haßte keine Tätigkeit mehr als diese – besonders, wenn es um ihre eigenen Kinder ging. Doch niemand wu r de mit dieser Aufgabe besser fertig als sie.
Sie wusch das Gesicht des Mädchens. Nweke, dachte sie, Kleines, halte aus bis morgen. Nur noch eine Nacht, dann sind die Schmerzen überstanden!
Nweke wurde ruhiger, als hörte sie Anyanwus verzwe i felte Gedanken. Vielleicht vernahm das Mädchen sie wir k lich. Ihr Gesicht war nun eingefallen, grau und reglos. Anyanwu streichelte es zärtlich, sah die Linien darin, die sie – wie immer – an den Vater des Mädchens erinnerten.
Nwekes Vater. Ein Mann, auf dem vom Tag seiner G e burt an ein Fluch lastete. Und die Schuld daran trug allein nur Doro. O ja, Nwekes Vater war hervorragendes Zuch t material gewesen. Ein Waldmensch, unfähig, die Gesel l schaft anderer zu ertragen. Unf ä hig, auch nur für kurze Zeit Ruhe vor den Gedanken der anderen zu finden. Er war a n ders gewesen als Nweke, die nur starke Gefühle und große seelische und körperliche Belastungen empfing. Er dag e gen empfing alles, jede Kleinigkeit. Außerdem sah er Di n ge, die weit von ihm entfernt geschahen und dazu noch in g e schlossenen Räumen. In einer Stadt, ja sogar in einem Ort mit nur wenig Einwohnern, wäre er verrückt geworden. Seine Verwundbarkeit war nicht Zeitweiliges, Vorüberg e hendes, nicht ein Übergang von der Machtlosigkeit zu gottgleicher Macht. Sie war eine Gegebenheit, die er au s zuhalten hatte bis zum Tage seines Todes. Der Mann hatte Doro geliebt, denn Doro war der einzige, dessen G e danken ihn nicht belästigten. Sein Geist vermochte in den Doros nicht einzudringen. Doro sagte, dies sei eine Sache der Selbsterhaltung. Ein Geist, dem es gelang, in den seinen einzudringen, verwandelte sich in den seinen. Er wurde aufgezehrt, ausgelöscht. Und Doro übernahm den Körper, den dieser Geist beseelt hatte. Doro sagte, daß sogar Leute wie Thomas – so hieß der Waldmensch –, deren telepath i sche Kräfte völlig außerhalb jeder Kontrolle lagen, es noch nie vermocht hatten, seine Gedanken zu erreichen. Die a n deren dagegen, die ihre Kräfte unter Kontrolle hatten, konnten sich dazu zwingen, es zu versuchen – so wie man sich zwingen kann, seine Hand ins Feuer zu halten –, aber mit dem Versuch war stets auch die Empfindung von Hitze verbunden und die Erken n tnis, daß es sich dabei um ein tödliches Unterfangen handelte.
Thomas konnte sich nicht zwingen, seine Hände ins Feuer zu halten. Er lebte allein in einer
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