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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Stehlampe an, ging in die Küche und trank zwei Glas kaltes Wasser. Auf dem Gaskocher stand ein Topf mit Sahnestew. Der Topf hielt noch eine Spur von Wärme. Im Aschenbecher lagen zwei ausgedrückte Mentholzigaretten meiner Freundin, die Filter gereckt.
    Instinktiv ahnte ich, dass sie das Haus verlassen hatte. Sie war weg.
    Ich stützte mich mit beiden Armen auf der Anrichte ab und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
    Sie war nicht mehr hier , so viel stand fest. Das war keine Theorie und keine Schlussfolgerung, das war harte Realität. Die ganze Atmosphäre, die Leere des Hauses sagten mir das. Eine Atmosphäre, wie ich sie zwei Monate, von dem Augenblick, als meine Frau die Wohnung verließ, bis ich meine Freundin kennen lernte, bis zum Erbrechen gekostet hatte.
    Vorsichtshalber stieg ich in den ersten Stock und sah der Reihe nach in alle drei Zimmer, öffnete sogar die Einbauschränke. Sie war nicht da. Auch ihre Umhängetasche und ihre Daunenjacke waren weg. Und am Eingang fehlten ihre Bergschuhe. Sie war weggegangen, kein Zweifel. Überall, wo sie einen Zettel hätte hinlegen können, suchte ich nach einer Notiz. Es war keine da. Der Zeit nach war sie vielleicht schon im Tal.
    Ich war noch nicht in der Lage, richtig zu begreifen, dass sie weg war. Es war eben erst passiert, und ich konnte noch nicht klar denken, aber selbst wenn ich hätte klar denken können – die sinnvolle Einordnung all dessen, was sich um mich herum ereignete, überforderte mich längst. Was blieb mir also übrig, als mich einfach dem Strom der Ereignisse zu überlassen.
    Ich saß auf dem Sofa und dachte an nichts, als mir plötzlich auffiel, dass ich wahnsinnigen Hunger hatte. Nachgerade absurd großen Hunger.
    Von der Küche aus stieg ich die Stufen zu dem Kellerraum hinab, der als Speisekammer und Vorratsraum diente, nahm irgendeinen Rotwein heraus, entkorkte ihn und probierte. Ein bisschen zu kalt, aber sonst nicht schlecht. Wieder in der Küche, schnitt ich Brot und schälte einen Apfel. Bis das Stew warm war, trank ich drei Gläser Wein.
    Als das Stew fertig war, stellte ich es mit dem Wein und den anderen Sachen auf den Esstisch im Wohnzimmer und aß zu Abend; dazu hörte ich mir das Percy Faith Orchestra an, Perfidia . Nach dem Essen trank ich den Rest Kaffee, der noch in der Kasserolle war, und legte mit den Karten, die ich auf dem Kaminsims gefunden hatte, eine Patience. Eine, die man im 19. Jahrhundert in England erfunden hatte und die eine Zeit lang populär gewesen, aber schon bald wieder in Vergessenheit geraten war, weil sie einfach zu schwierig war. Irgendein Mathematiker hatte errechnet, dass sie, wenn man sie 250000-mal legte, nur ein einziges Mal aufging. Ich versuchte es nur dreimal und hatte natürlich Pech. Ich räumte das Geschirr und die Karten weg und trank den Rest des Weines. Etwa ein Drittel war noch in der Flasche.
    Draußen war Nacht. Ich machte die Fensterläden zu, legte mich aufs Sofa und hörte mir ein paar der alten, knisternden Platten an.
    Ob Ratte wohl wiederkam?
    Wahrscheinlich. Immerhin hatte er hier Lebensmittel- und Brennstoffvorräte für einen ganzen Winter angelegt.
    Wahrscheinlich – aber mehr auch nicht. Vielleicht hatte er auch einfach die Nase voll gehabt und war in die »Stadt« zurückgekehrt, oder er hatte beschlossen, mit irgendeinem Mädchen in den Untergrund zu gehen. Ganz auszuschließen war das nicht.
    Wenn dem so war, saß ich in der Klemme. Dann würde meine Frist von einem Monat ablaufen, ohne dass ich Ratte oder das Schaf gefunden hätte, und der schwarz gekleidete Mann würde mich mit hinabziehen in seine so genannte »Götterdämmerung«. Garantiert. Auch wenn es ihm gar nichts brächte, mich mit hinabzuziehen, er würde es tun. Er war der Typ dafür.
    Mein Monat war genau zur Hälfte um. Die zweite Oktoberwoche, genau die Zeit, in der die Großstadt am großstädtischsten ist. Wenn diese Sache nicht wäre, säße ich jetzt garantiert irgendwo in einer Bar, äße ein Omelett und tränke Whiskey dazu. Die richtige Jahreszeit, um zur rechten Stunde an einem soliden, aus einem Stamm gehauenen Tresen zu hocken, abends nach dem Regen, Whiskey mit frisch vom Block gehacktem Eis, Stunden, in denen die Zeit gemächlich fließt wie ein stiller Strom.
    Als ich mir das so ausmalte, begann ich mir einzubilden, auf der Welt existierte noch ein anderes Ich, säße irgendwo in einer Bar und tränke gemütlich Whiskey. Und je länger ich darüber nachdachte, desto realer erschien mir dieses

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