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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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andere Ich. Irgendwo war irgendetwas schiefgelaufen, und dieses andere Ich war realer geworden als ich, hier.
    Ich schüttelte, um wieder klar zu werden, den Kopf.
    Draußen in der Nacht gurrten weiter die Vögel.
    * * *
    Ich stieg hoch in den ersten Stock und machte in dem kleinen Zimmer, das Ratte nicht benutzt hatte, das Bett. Das Bettzeug, Matratze, Laken und Decken, war in dem Einbauschränkchen neben der Treppe verstaut gewesen. Das Mobiliar entsprach genau dem in Rattes Zimmer. Nachtschränkchen, Schreibtisch, Schrank und Lampe. Alles altmodisch, aber solide – Produkte aus einer Zeit, in der man zuallererst an die Funktion gedacht hatte. Nichts Überflüssiges.
    Das Fenster am Kopfende des Bettes ging ebenfalls zur Weide. Es hatte vollständig zu regnen aufgehört, und die dicke Wolkendecke begann hier und da aufzureißen. Von Zeit zu Zeit schaute ein schöner Halbmond durch die Wolkenrisse und tauchte die Weide in helles Licht. Es sah aus wie tiefer Meeresgrund im Lichtkegel eines Scheinwerfers.
    Ich legte mich, wie ich war, ins Bett und sah lange auf die Landschaft, die verschwand und wieder auftauchte. Darüber legte sich das Bild meiner Freundin, wie sie durch die verhexte Kurve ging und den Berg hinabstieg; danach tauchten eine Herde Schafe auf und Ratte, der sie fotografierte. Als der Mond aber hinter den Wolken verschwand und dann wieder auftauchte, war auch dieses Bild weg.
    Im Lampenlicht las ich Die Abenteuer des Sherlock Holmes .

6. EIN FUND IN DER GARAGE – GEDANKEN MITTEN AUF DER WEIDE
    Ein Schwarm von Vögeln, die ich noch nie gesehen hatte, hockte wie Christbaumschmuck auf der Kastanie vor dem Haus und zwitscherte. Alles ringsum war nass und glitzerte in der Morgensonne.
    Ich toastete Brot in dem guten alten, manuellen Toaster, zerließ Butter in der Pfanne, briet Spiegeleier und trank zwei Glas von dem Traubensaft, der im Kühlschrank war. Es war einsam ohne meine Freundin, aber die Tatsache, dass ich es als Einsamkeit empfinden konnte, half mir schon ein bisschen darüber hinweg. Einsamkeit ist nicht das schlechteste Gefühl. Ein Gefühl wie der Baum draußen ohne Vögel.
    Nach dem Geschirrspülen wusch ich mir im Badezimmer das Eigelb ab, das mir in den Mundwinkeln klebte, und verwendete volle fünf Minuten aufs Zähneputzen. Dann, nach längerem Hin- und Herüberlegen, rasierte ich mich.
    Auf der Spiegelablage fand ich eine Dose Rasierschaum, so gut wie unbenutzt, und Gillette-Klingen. Zahnbürsten waren da, Zahnpasta und Seife, sogar Skin Lotion und Eau de Cologne. Ebenso etwa zehn verschiedenfarbige Handtücher, säuberlich gefaltet und gestapelt. Rattes Gewissenhaftigkeit. Spiegel wie Waschbecken fleckenlos.
    Klo und Badewanne boten das gleiche Bild. Die Fugen zwischen den Fliesen waren mit einer alten Zahnbürste und Putzmittel weiß gescheuert. Enorm. Der Duftspender im Spülkasten des Klos verbreitete einen Duft wie teurer Gin Lime in einer eleganten Bar.
    Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa und rauchte meine Morgenzigarette. Im Rucksack hatte ich noch drei Päckchen Lark , dann war Schluss. Wenn die alle waren, würde ich mich des Rauchens enthalten müssen. Beim Gedanken daran rauchte ich gleich noch eine. Angenehm schien die Morgensonne, und auf dem Sofa saß es sich bequem. So verging im Nu eine Stunde. Die Uhr schlug gemächlich neun.
    Irgendwie glaubte ich zu verstehen, warum Ratte im Haus alles aufgeräumt, warum er die Fugen zwischen den Fliesen gescheuert, warum er seine Hemden gebügelt und sich rasiert hatte, obwohl doch mit Besuchern nicht zu rechnen war: Wenn man sich hier nicht ständig in Bewegung hielt, ging jedes vernünftige Zeitgefühl verloren.
    Ich stand auf und drehte mit verschränkten Armen im Zimmer eine Runde, aber auf Anhieb fiel mir nichts ein, was ich hätte tun können. Was zu putzen war, hatte Ratte schon geputzt. Er hatte sogar von der hohen Decke den Ruß entfernt.
    Mir würde schon noch etwas einfallen, keine Eile.
    Ich nahm mir vor, fürs Erste einen kleinen Spaziergang ums Haus zu machen. Es war herrliches Wetter. Am Himmel schwebten wie hingebürstet ein paar Wolkenfetzen, und von überall her hörte ich Vögel zwitschern.
    Hinter dem Haus war eine große Garage. Vor dem alten, zweiflügeligen Tor lag auf dem Boden eine Zigarettenkippe. Eine Seven Star . Diesmal war es eine ziemlich alte, das Papier hatte sich schon vom Filter gelöst. Im Haus, fiel mir ein, gab es nur einen einzigen Aschenbecher, einen alten Aschenbecher, der

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