Wilde Schafsjagd
meisten betrafen Geographie und Naturwissenschaften, Geschichte, Philosophie und Politik und konnten allenfalls dazu dienen, den Bildungsstand des Durchschnittsintellektuellen von vor vierzig Jahren zu dokumentieren. Ein paar Nachkriegsausgaben standen zwar herum, waren aber ebenso wertlos. Nur eine Hand voll belletristischer Werke hatte die Zeitläufte überdauert, darunter Plutarchs Biographien und eine Auswahl griechischer Dramen . Die mochten immerhin recht hilfreich sein, in einem langen Winter die Zeit totzuschlagen. Wie auch immer: Eine so umfangreiche Sammlung nutzloser Bücher war mir noch nie unter die Augen gekommen.
Neben dem Bücherschrank gab es weitere Einbaufächer mit Tischlautsprechern, wie sie Mitte der sechziger Jahre Mode waren, Verstärker und Plattenspieler. Die etwa zweihundert Platten jedenfalls hatten durchaus ihren Wert, auch wenn sie alle alt und zerkratzt waren. Musik hält sich länger als Philosophie. Ich stellte den Vakuumröhrenverstärker an, griff wahllos eine Platte heraus und platzierte die Nadel. Nat King Cole sang South of the Border und versetzte das Zimmer zurück in die Fünfziger.
Der Wand gegenüber reihten sich in gleichmäßigem Abstand vier etwa ein Meter achtzig hohe Doppelfenster. Man sah von dort den grauen Regen auf die Weide niedergehen. Er war stärker geworden; das Bergmassiv lag in dunstiger Ferne.
In der Mitte des Zimmers bedeckte ein etwa zehn Quadratmeter messender Teppich die Dielen; auf dem Teppich standen die Couchgarnitur und eine Stehlampe. In einer Ecke standen ein massiver Esstisch und Stühle; die Tischplatte war weiß verstaubt.
Das Zimmer wirkte tatsächlich leer.
An der Stirnwand gab es eine unscheinbare Tür, hinter der sich eine etwa zehn Quadratmeter große Abstellkammer verbarg. Sie war voll gestopft mit überflüssigem Mobiliar, Teppichresten und Geschirr, mit Golfschlägern, Zierrat, einer Gitarre, Matratzen, einem Mantel, Bergschuhen, alten Zeitschriften. Sogar eine Anleitung zum Bestehen der Aufnahmeprüfung für Mittelschulen und ein Flugzeugmodell mit Fernbedienung lagen herum. Fast alle Sachen stammten aus der Zeit von Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre.
Die Zeit in diesem Gebäude ging anders. Wie die altmodische, im Zimmer aufgestellte Standuhr. Wenn Leute kamen, zogen sie sie auf. Dann tickte, solange die Gewichte es zuließen, die Zeit. Wenn sie gingen und die Gewichte nicht mehr zogen, stand die Zeit still. Die stillstehende Zeit häufte sich auf dem Boden zu einer Schicht farblosen Lebens.
Ich nahm mir ein paar alte Filmzeitschriften mit ins Zimmer und schlug eine auf. Fotobericht über Alamo . John Waynes erster Regiefilm, mit voller Unterstützung, hieß es, von John Ford. John Wayne erzählte, er wolle einen Film drehen, der den Amerikanern ans Herz gehe. Aber die Trappermütze stand ihm überhaupt nicht.
Meine Freundin kam mit dem Kaffee; wir setzten uns zusammen hin und tranken. Von Zeit zu Zeit patschten Regentropfen an die Scheiben. Die Zeit floss immer zäher und vermengte sich mit dem kühlen Dämmer, der im Zimmer herrschte. Das elektrische Licht schwebte im Raum wie gelbe Pollen.
»Müde?«, fragte meine Freundin.
»Ein bisschen«, sagte ich, auf die Landschaft draußen starrend. »Erst die lange Sucherei, dann plötzlich Stillstand. Das wird’s sein. Nach der ganzen Plackerei kommen wir endlich hier an, und dann sind weder Ratte da noch das Schaf.«
»Leg dich ein bisschen hin. Ich mach inzwischen das Essen.«
Sie holte von oben eine Wolldecke und deckte mich damit zu. Dann machte sie den Ölofen an, steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und gab mir Feuer.
»Kopf hoch. Bestimmt geht alles gut.«
»Danke«, sagte ich.
Dann verschwand sie in der Küche.
Plötzlich schien mein Körper immer schwerer zu werden. Ich drückte die Zigarette nach zwei Zügen aus, zog mir die Decke bis ans Kinn und schloss die Augen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich eingeschlafen war.
5. SIE IST WEG – HUNGER KOMMT
Ich erwachte auf dem Sofa, als die Uhr sechs schlug. Das Licht war aus, das Zimmer vom Dunkel des Abends erfüllt. Mein ganzer Körper war bis in die Fingerspitzen wie betäubt. Das tintige Schwarz der Dunkelheit schien durch alle Poren in mich einzudringen.
Der Regen hatte offenbar nachgelassen; durch die Fensterscheiben drang das Gegurre von Nachtvögeln. Merkwürdig hell flackerte auf der weißen Zimmerwand nur der Widerschein der Ölofenflamme.
Ich stand auf, knipste die
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