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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ein leises Knacken, das Licht ging an, und aus der Küche tauchte meine Freundin auf. Mit ein paar professionellen Bewegungen durchsuchte sie rasch das Zimmer, setzte sich dann in den Sessel und rauchte eine Mentholzigarette. Ich rauchte auch eine. Seit ich mit ihr zusammen war, begann ich langsam den Mentholgeschmack zu mögen.
    »Dein Freund wollte anscheinend hier überwintern«, sagte sie. »Ich hab mich ein bisschen in der Küche umgesehen, da liegen Brennstoff und Lebensmittel für einen ganzen Winter. Ein einziger Supermarkt, alles da.«
    »Nur mein Freund nicht.«
    »Gehn wir mal in den ersten Stock.«
    Die Treppe lag neben der Küche. In der Mitte beschrieb sie einen seltsamen Knick. Die Luft im ersten Stock schien völlig anders.
    »Ich hab Kopfschmerzen«, sagte meine Freundin.
    »Starke Kopfschmerzen?«
    »Nein, es geht, keine Sorge. Ich bin dran gewöhnt.«
    Im ersten Stock gab es drei Schlafzimmer. Links vom Flur lag ein großes, rechts zwei kleine. Wir sahen uns die drei Zimmer der Reihe nach an. Alle waren dämmerig und fast leer, nur mit dem Notwendigsten ausgestattet. In dem großen Zimmer standen zwei Bettgestelle und ein Frisiertisch. Es roch nach toter Zeit.
    Nur in dem hinteren kleinen Zimmer roch es, als habe dort jemand gewohnt. Das Bett war ordentlich gemacht, das Kissen noch leicht eingedrückt; neben dem Kissen lag zusammengefaltet ein einfarbig blauer Schlafanzug. Auf dem Nachttischchen stand eine altmodische Lampe, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch, die Seiten nach unten. Es war ein Roman von Joseph Conrad.
    Neben dem Bett stand ein massives Schränkchen aus Eiche; in den Schubladen lag Männerkleidung – Pullover, Hemden, Hosen, Socken, Unterwäsche, alles säuberlich geordnet. Die Pullover und Hemden waren abgetragen, teilweise auch zerrissen, aber von guter Qualität. Ein paar davon hatte ich schon mal gesehen. Das waren Rattes Sachen. Hemden Größe 37, Hosen Größe 73. Kein Zweifel.
    Am Fenster standen ein Schreibtisch und ein Stuhl, altes, schlichtes Design, wie man es kaum noch zu sehen bekommt. In der obersten Schreibtischschublade lagen ein billiger Füller, drei Schachteln mit Ersatzpatronen, Briefumschläge und Briefpapier; das Papier war nicht beschrieben. In der zweiten lagen eine halb leere Dose Hustenbonbons und jede Menge Krimskrams. Die dritte war leer. Kein Tagebuch, kein Notizbuch, kein Zettel, nichts. Er musste nur das Wichtigste mitgenommen haben. Alles war zu ordentlich, das gefiel mir nicht. Ich strich mit einem Finger über die Schreibtischplatte: weißer Staub. Nicht viel. Staub von einer Woche.
    Ich öffnete das auf die Weide gehende Doppelfenster und drückte die Läden auf. Der Wind, der über die Weide fegte, war stärker geworden, und die schwarzen Wolken hingen eine Spur tiefer. Wie ein Lebewesen wand sich die Weide im Wind. Jenseits davon waren die Birken zu sehen, dahinter der Berg. Das war dieselbe Landschaft wie auf dem Foto. Absolut identisch, nur ohne Schafe.
    * * *
    Wir gingen hinunter und setzten uns wieder aufs Sofa. Die Standuhr spielte eine kurze Melodie und schlug dann zwölf. Wir saßen still, bis der letzte Gong verklungen war.
    »Was willst du nun machen?«, fragte meine Freundin.
    »Warten, was bleibt mir anderes übrig«, sagte ich. »Bis vor einer Woche war Ratte noch hier. Sogar sein Gepäck ist noch da. Er kommt garantiert wieder.«
    »Und wenn vorher der Schnee einsetzt? Dann müssen wir hier überwintern, und deine Frist läuft auch ab.«
    Sie hatte Recht.
    »Was sagen denn deine Ohren?«
    »Nichts. Sobald ich sie öffne, kriege ich Kopfschmerzen.«
    »Warten wir also auf Ratte. Ganz gemütlich«, sagte ich.
    Einen anderen Weg gab es nämlich nicht.
    Während sie in der Küche Kaffee kochte, ging ich in dem geräumigen Zimmer herum und sah mir alles aufmerksam an. In der Mitte der Stirnwand war ein richtiger offener Kamin. Nichts deutete darauf hin, dass er in letzter Zeit benutzt worden war, aber alles war so hergerichtet, dass er jederzeit benutzt werden konnte. Ein paar Eichenblätter waren durch die Esse hereingeweht worden. Für weniger kalte Tage, an denen es nicht notwendig war, Brennholz zu verheizen, stand ein großer Ölofen bereit. Die Tankanzeige stand auf voll.
    An den Kamin schloss ein eingebauter, mit Glastüren versehener Bücherschrank an, die Regale voll gepfropft mit alten Werken. Ich nahm ein paar heraus und blätterte sie durch; sie stammten alle aus der Vorkriegszeit und hatten so gut wie keinen Wert. Die

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