Wilde Schafsjagd
point of no return bereits erreicht.
Im Gegensatz zu dem verfallenden Haus waren die Bäume endlos weitergewachsen; schützend umgaben sie das Gebäude wie das Baumhaus in Wyss’ Schweizerischem Robinson . Ihre seit langem nicht beschnittenen Äste wucherten wild.
Wenn ich an den gefährlichen Bergweg dachte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Schafprofessor vor vierzig Jahren sein Baumaterial hierher transportiert hatte. Wahrscheinlich hatte er seine ganze Arbeitskraft und sein gesamtes Vermögen investieren müssen. Der Gedanke an den in seinem dunklen Zimmer im ersten Stock des Hotels in Sapporo zurückgezogenen Professor gab mir einen Stich ins Herz. Wenn so etwas wie der Undank der Welt existierte, dann war das Leben des Schafprofessors das Paradebeispiel. Ich stand im kalten Regen und schaute am Gebäude hoch.
Genau wie aus der Ferne machte das Haus einen unbewohnten Eindruck. An den hölzernen Läden der schmalen, hohen Doppelfenster klebten verschiedene feine Staubschichten. Der Regen hatte den Staub in merkwürdigen Mustern fixiert, auf denen sich neuer Staub abgesetzt hatte, der dann wieder von neuem Regen fixiert worden war. In die Eingangstür hatte man in Augenhöhe ein zehn mal zehn Zentimeter messendes Fensterchen eingelassen, aber ein Vorhang versperrte den Blick nach innen. Auch der Türknopf aus Messing war dick verstaubt; als ich ihn anfasste, bröckelten ganze Klümpchen ab. Der Türknopf wackelte wie ein altersschwacher Backenzahn, aber die Tür ging nicht auf. Die alte, aus drei Eichenbohlen zusammengefügte Tür war wesentlich massiver, als sie aussah. Ich schlug ein paar Mal mit der Faust dagegen; keine Antwort, wie erwartet. Bloß die Hand tat mir weh. Über unseren Köpfen schwankten die Äste einer riesigen Kastanie im Wind; es rauschte und prasselte, als ob eine Lawine aus Sand niederginge.
Ich tastete, wie der Verwalter geraten hatte, den Boden des Briefkastens ab. Der Schlüssel hing an einem Stück Metallbeschlag der Rückwand. Es war ein altertümlicher Messingschlüssel, am Griff weißlich abgewetzt.
»Ist das nicht unvorsichtig, den Schlüssel einfach immer so offen liegen zu lassen?«, fragte meine Freundin.
»Glaubst du, irgendjemand würde sich extra zum Klauen herbemühen und mit der Beute auf dem Rücken den ganzen Weg wieder zurücklaufen?«, sagte ich.
Der Schlüssel passte beinahe unnatürlich perfekt ins Schlüsselloch. Ich drehte ihn herum, und mit einem angenehmen Knacken entriegelte sich das Schloss.
* * *
Im Haus war es unnatürlich düster, vielleicht, weil die Fensterläden lange geschlossen gewesen waren; es dauerte eine Zeit, bis sich die Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Die Düsternis war überall.
Das Zimmer war geräumig. Geräumig, ruhig, und es roch wie in einem alten Schuppen. Ein Geruch, den ich aus meinen Kindertagen kannte. Ein Geruch nach vergangener Zeit, wie ihn alte Möbel und weggelegte Decken und Teppiche verströmen. Wir schlossen die Tür hinter uns; vom Wind war nichts mehr zu hören.
»Hallo«, rief ich laut. »Ist jemand da?«
Natürlich war niemand da. Das Rufen war überflüssig. Nur eine Standuhr neben dem Kamin tickte.
Für einige Sekunden wurde mir schwindelig. Die Zeit lief in der Dunkelheit vor und zurück, mehrere Orte überlagerten einander. Unbeholfen brach mein Gedächtnis zusammen wie ein Haufen trockener Sand. Das Ganze dauerte nur einen Moment. Als ich die Augen aufmachte, war alles vorbei. Vor mir lag ein merkwürdig einförmiger, grauer Raum, weiter nichts.
»Alles in Ordnung?«, fragte meine Freundin besorgt.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Lass uns erst mal reingehen.«
Im Halbdunkel sah ich mir, während meine Freundin den Lichtschalter suchte, die Standuhr an. Drei Kettengewichte hielten die Uhr in Gang. Alle drei Gewichte hatten sich schon bis zum tiefsten Punkt abgesenkt, aber die Uhr tickte noch mit der letzten ihr verbliebenen Kraft. Der Kettenlänge nach zu urteilen, brauchten die Gewichte eine Woche, um sich ganz nach unten abzusenken. Noch vor einer Woche musste also jemand hier gewesen sein und die Uhr aufgezogen haben.
Nachdem ich die Uhr aufgezogen hatte und die Gewichte wieder ganz oben hingen, setzte ich mich auf das Sofa und streckte die Beine aus. Das Sofa war alt, stammte wohl noch aus der Vorkriegszeit, aber es saß sich gut darauf. Das Polster war nicht zu weich und nicht zu hart und passte sich dem Körper an. Es roch vertraut.
Nach einer Weile gab es
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