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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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betrachtete, sondern dass das Bild im Spiegel mein wahres Ich sei, betrachtet von einem flachen Abbild meiner selbst. Ich hob den rechten Arm und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. Mein Ich im Spiegel tat dasselbe. Oder hatte ich nur eine von dem Ich im Spiegel ausgeführte Bewegung nachgemacht? Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir wirklich selbst und aus freiem Willen mit dem Handrücken über den Mund gewischt hatte.
    »Freier Wille« – mit diesem Wort im Kopf fasste ich mir mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand ans Ohr. Mein Ich im Spiegel tat dasselbe. Es schien das gleiche Wort im Kopf zu haben – »freier Wille«.
    Ich hatte genug und ging vom Spiegel weg. Ich im Spiegel ging auch vom Spiegel weg.
    * * *
    Am zwölften Tag schneite es zum dritten Mal. Es schneite schon, als ich morgens aufstand. Fast heimlich leiser Schnee, nicht hart, nicht pappig. Die Flocken tanzten gemächlich herab und schmolzen, noch bevor sie zu einer Decke zusammenfanden. Schnee so still wie sanftes Augenschließen.
    Ich holte die alte Gitarre aus der Rumpelkammer hervor, stimmte sie mühsam und zupfte ein paar alte Songs. Über meinen Fingerübungen zu Benny Goodmans Airmail Special wurde es Mittag; ich schnitt dicke Scheiben Schinken, belegte damit das schon hart gewordene, selbst gebackene Brot und trank eine Dose Bier dazu.
    Eine halbe Stunde später, ich übte wieder, kam der Schafsmann. Leise fiel immer noch der Schnee.
    »Wenn ich stör, komm ich ein andermal wieder«, sagte der Schafsmann und blieb in der offenen Tür stehen.
    »Nein, komm rein. Ich hatte bloß Langeweile«, sagte ich und legte die Gitarre auf den Boden.
    Wie beim vorigen Besuch schlug der Schafsmann draußen erst die Erde von den Schuhen, bevor er eintrat. Im Schnee saß ihm sein dikkes Kostüm wie eine zweite Haut. Er setzte sich mir gegenüber aufs Sofa, stützte beide Hände auf und rutschte ein paar Mal unruhig hin und her.
    »Der wird nicht liegen bleiben, oder?«, fragte ich.
    »Nein«, antwortete der Schafsmann. »Es gibt Schnee, der liegen bleibt, und Schnee, der schmilzt. Der hier schmilzt.«
    »Hmm.«
    »Der andere fällt nächste Woche.«
    »Trinkst du ein Bier mit?«
    »Danke. Wenn’s geht, wär mir ein Kognak lieber.«
    Ich ging in die Küche und holte Kognak für ihn, Bier für mich und Käse-Sandwiches für uns beide.
    »Du hast Gitarre gespielt«, sagte der Schafsmann anerkennend. »Ich hör auch gern Musik. Kann selber zwar nich spielen.«
    »Ich auch nicht. Ich hab fast zehn Jahre nicht mehr gespielt.«
    »Trotzdem, spiel doch was vor.«
    Um den Schafsmann nicht zu verärgern, spielte ich einmal Airmail Special , improvisierte dann noch ein bisschen, kam aber schon bald aus dem Takt und gab auf.
    »Du spielst gut«, lobte der Schafsmann ernst. »Selber spielen macht großen Spaß, was?«
    »Wenn man gut ist. Aber um richtig gut zu werden, muss man sein Gehör trainieren, und wenn man dann ein gutes Gehör hat, kann man sein eigenes Gezupfe nicht mehr ertragen.«
    »Tatsächlich, ja?«, sagte der Schafsmann.
    Er goss sich Kognak ins Glas und nippte daran; ich riss mein Bier auf und trank direkt aus der Dose.
    »Ich konnt es ihm nich ausrichten«, sagte der Schafsmann. Ich nickte stumm.
    »Ich wollt es dir nur gesagt haben.«
    Ich sah auf den Kalender an der Wand. Das Datum, an dem meine Frist ablief, hatte ich rot markiert; mir blieben noch drei Tage. Aber das war mir mittlerweile scheißegal.
    »Die Lage hat sich geändert«, sagte ich. »Ich hab Wut im Bauch. Wut wie noch nie in meinem ganzen Leben.«
    Der Schafsmann schwieg, das Kognakglas in der Hand.
    Ich griff mir die Gitarre und schmetterte sie mit Wucht gegen den Kamin. Eine laute Disharmonie, und der Boden war hin. Der Schafsmann sprang vom Sofa hoch. Seine Ohren zitterten.
    »Auch ich habe das Recht, wütend zu sein«, sagte ich. Ich sagte es eher zu mir selbst. Auch ich hatte das Recht, wütend zu sein.
    »Ich konnte nix für dich tun. Tut mir leid, aber du musst das verstehn. Nich, dass ich dich nich mag.«
    Eine Zeit lang sahen wir hinaus auf den Schnee. Es schüttete weichen Schnee, als ob jemand die Wolken aufgeschlitzt hätte.
    Ich ging zur Küche, um mir ein neues Bier zu holen. An der Treppe sah ich in den Spiegel. Mein anderes Ich war auch gerade unterwegs, ein neues Bier zu holen. Wir sahen uns an und seufzten. Wir lebten in verschiedenen Welten und dachten das Gleiche. Wie Groucho und Harpo in Duck Soup .
    Hinter mir spiegelte sich das

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