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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Es war das einzige ohne Staub auf dem Schnitt, und der Rücken stand ein wenig aus der Reihe vor.
    Ich zog das Buch vom Regal, setzte mich in den Sessel und blätterte darin herum. Die Entstehung des Großasiatischen Reiches , während des Krieges gedruckt. Das Papier war von fürchterlicher Qualität und verbreitete Schimmelgeruch. Der Inhalt, man befand sich im Krieg, war einseitiger Blödsinn und dazu so langweilig, dass ich alle drei Seiten gähnen musste. Gleichwohl waren noch einige Stellen geschwärzt. Vom Militärputsch am 26. Februar 1936 kein Wort.
    Ich blätterte in den Seiten, ohne eigentlich zu lesen, und fand ziemlich am Ende des Buches ein eingelegtes weißes Blatt Papier. Nach den vielen alten, vergilbten Seiten stach mir das Weiß dieses Blattes wie ein Wunder ins Auge. Es lag vor dem Anhang – einer Namensliste aller so genannten Pan-Asiatisten, inklusive Geburtsdaten und Herkunft. Ich ging die Liste von oben nach unten durch; etwa in der Mitte stieß ich auf den Namen des Alten, des »schafbesessenen« Chefs, in dessen Sache ich hier war. Er stammte aus Hokkaido – aus Junitaki .
    Eine Weile saß ich nur so da, das Buch auf den Knien. Lange konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich war wie betäubt, als hätte man mir mit Wucht auf den Kopf geschlagen.
    Ich hätte es wissen müssen. Von Anfang an. Als ich zum ersten Mal hörte, dass er aus Hokkaido stammte, aus einer armen Bauernfamilie, hätte ich nachforschen müssen. Und es hätte garantiert einen Weg gegeben, das herauszufinden, wie geschickt der Alte auch immer die Spuren seiner Vergangenheit zu löschen gesucht hatte. Der schwarze Sekretär hätte mir diese Information in Null Komma nichts besorgt.
    Nein, nein, falsch, ganz falsch. Ich schüttelte den Kopf.
    Es konnte gar nicht sein, dass der Sekretär nicht nachgeforscht hatte. Er war nicht der Typ, so nachlässig zu arbeiten. Er checkte jede Kleinigkeit, wie trivial sie auch scheinen mochte. Genauso gründlich, wie er mich gecheckt hatte, mein Tun und meine Reaktionen.
    Er hatte bereits alles gewusst.
    Eine andere Erklärung gab es nicht. Und doch hatte er sich die Mühe gemacht, sich die Zeit genommen, mich zu überreden, vielmehr zu erpressen, mich auf die Suche zu schicken. Warum? Er hätte ohne Zweifel alles rascher und besser erledigen können als ich. Den Ort wenigstens hätte er mir verraten können, selbst wenn er mich denn aus welchen Gründen auch immer brauchte .
    Nach der Verwirrung kam der Zorn. Das alles war grotesk, nichts passte zusammen. Ratte wusste etwas. Und der schwarze Sekretär wusste auch etwas. Nur ich stand da, zwischen den beiden, und hatte so gut wie keine Ahnung, was los war. Ich dachte in völlig falschen Bahnen, und alles, was ich unternahm, lief an der Sache vorbei. Natürlich war das mein ganzes Leben so gewesen. In diesem Sinne konnte ich niemandem die Schuld geben. Aber sie hätten mich wenigstens nicht auf diese Weise benutzen sollen. Sie hatten mich ausgenutzt, hatten mich geschlagen und den letzten, den wirklich allerletzten Tropfen Selbstwertgefühl aus mir herausgequetscht.
    Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen lassen und wäre sofort runter ins Tal, aber das ging nicht. Dazu steckte ich schon viel zu tief in der Sache drin. Das Einfachste wäre gewesen, laut loszuheulen. Aber das ging auch nicht. Da lag, hatte ich das Gefühl, noch etwas vor mir, über das ich wirklich würde weinen müssen.
    Ich holte die Whiskeyflasche und ein Glas aus der Küche und goss mir fünf Zentimeter hoch ein. Außer Whiskey trinken fiel mir nichts ein.

9. WAS SICH SPIEGELT – UND WAS NICHT
    Am Morgen des zehnten Tages beschloss ich, alles zu vergessen. Was ich zu verlieren hatte, hatte ich bereits verloren.
    Während meines Morgenjoggings fiel zum zweiten Mal Schnee. Nasser, matschiger Schneeregen, der in regelrechte Eisflocken überging, bevor er sich zu undurchsichtigem Schnee verdichtete. Der Schnee war unangenehm, anders als der erste; er pappte am ganzen Körper.
    Ich gab das Joggen auf, ging ins Haus zurück und machte Badewasser heiß. In der Zwischenzeit setzte ich mich an den Ofen, um mich aufzuwärmen. Umsonst; die feuchte Kälte war mir bis in die Knochen gedrungen. Als ich die Handschuhe auszog, gelang es mir nicht, die Finger zu krümmen, und meine Ohren brimmsten, als wollten sie jeden Moment abfallen. Ich fühlte mich am ganzen Körper rau wie Sandpapier.
    Nach dreißig Minuten im heißen Bad und einem anschließenden Tee mit Kognak ging

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