Wilde Schafsjagd
Augenhöhe.
»Jedenfalls haben wir uns verändert, findest du nicht?«, sagte mein Partner.
»Nichts hat sich verändert. Nichts und niemand hat sich verändert.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja, das glaube ich. Ausbeutung? So was gibts nicht, ein Ammenmärchen ist das. Oder glaubst du etwa, dass die Trompeten der Heilsarmee tatsächlich die Welt erretten können? Du denkst zu viel.«
»Okay, lassen wir das, wahrscheinlich denke ich wirklich zu viel«, sagte mein Partner. »Vorige Woche hast du – haben wir – eine Margarinewerbung getextet. Kein schlechter Text, ganz im Gegenteil. Kam auch gut an. Aber hast du vielleicht in den letzten Jahren irgendwann mal Margarine gegessen?«
»Nein. Ich mag keine Margarine.«
»Ich auch nicht. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Früher haben wir wenigstens gemacht, wovon wir Ahnung hatten, und wir waren stolz darauf. Heute ist das anders. Heute werfen wir nur mit leeren Vokabeln um uns.«
»Margarine ist gesund. Pflanzliches Fett, wenig Cholesterin. Belastet kaum den Körper, wird auch geschmacklich in letzter Zeit immer besser. Ist billig und hält sich.«
»Dann iss sie doch, Mensch!«
Ich ließ mich zurücksinken und streckte langsam die Glieder. »Das macht keinen Unterschied. Ob wir die Margarine essen oder nicht, kommt aufs Gleiche raus. Ein banaler Übersetzungstext oder eine hanebüchene Margarinewerbung, im Wesentlichen ist das das Gleiche. Wir werfen mit leeren Vokabeln um uns, ohne Frage. Aber wo gibt’s schon Vokabeln, die nicht leer wären? Ehrliche Arbeit gibt es nirgendwo, das sag ich dir. Genauso wenig wie ehrliches Atmen oder ehrliches Pinkeln.«
»Früher warst du unschuldiger.«
»Kann sein«, sagte ich und drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus. »Irgendwo gibt es bestimmt ein kleines, unschuldiges Städtchen mit einem unschuldigen Metzger, der unschuldigen Schinken schneidet. Wenn du meinst, es sei unschuldig, schon mittags Whiskey zu trinken, dann trink, soviel du willst.«
Lange Zeit herrschte im Zimmer nur das Klopfen des Kugelschreibers auf dem Schreibtisch.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »So wollte ich das nicht sagen.«
»Schon gut«, sagte mein Partner. »Du hast ja Recht.«
Mit einem Klicken sprang der Thermostat der Klimaanlage an. Es war ein erschreckend ruhiger Nachmittag.
»Kopf hoch«, sagte ich. »Haben wir es nicht aus eigener Kraft so weit gebracht? Wir schulden niemandem nichts. Anders als die Typen, die mit stolzgeschwellter Brust herumlaufen, nur weil sie Verbindungen haben oder über ein paar Titelchen verfügen.«
»Früher waren wir Freunde«, sagte er.
»Das sind wir immer noch«, sagte ich. »Schließlich sind wir zusammen durch dick und dünn gegangen, die ganze Zeit.«
»Dass du dich hast scheiden lassen, tut weh.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber willst du nicht langsam zu den Schafen kommen?«
Er nickte, legte den Kugelschreiber auf die Ablage zurück und rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen.
»Der Mann kam heute früh um elf«, sagte er.
2. DER MERKWÜRDIGE MANN
Der Mann kam morgens um elf. In einem kleinen Betrieb wie dem unseren gibt es zwei Arten von morgens um elf: Entweder haben wir furchtbar viel zu tun, oder wir haben furchtbar wenig zu tun, eins von beiden. Ein Dazwischen gibt es nicht. Um elf Uhr vormittags arbeiten wir also entweder wie die Verrückten, ohne an irgendetwas anderes zu denken, oder aber wir hängen, ohne an irgendetwas anderes zu denken, ein jeder unseren Träumen nach. Zwischenarbeiten (wenn es denn so etwas gibt) lassen sich auf den Nachmittag verschieben.
Der Mann kam an einem Elf-Uhr-Vormittag der letzteren Art. Zudem an einem von geradezu denkwürdiger Muße. In der ersten Septemberhälfte hatten wir jeden Tag wahnsinnig zu tun gehabt, und danach kam auf einmal nichts mehr. Obwohl drei von uns, ich eingeschlossen, in um einen Monat verspätete Sommerferien gingen, hatten die anderen kaum mehr zu tun, als die Bleistifte anzuspitzen. Mein Partner war auf der Bank, um Schecks einzulösen, und ein Kollege vertrieb sich die Zeit damit, im Showroom eines nahen HiFi-Herstellers stapelweise neue Platten abzuhören – im Büro blieb nur das Mädchen, das Telefondienst hatte; sie las in einem Frauenmagazin die Seiten mit den »Neuen Herbstfrisuren«.
Der Mann öffnete geräuschlos die Bürotür, und geräuschlos schloss er sie wieder. Nicht, weil er bewusst leise sein wollte. Er tat dies ganz gewöhnlich und natürlich – so gewöhnlich und
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