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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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natürlich, dass dem Mädchen nicht einmal recht zu Bewusstsein kam, dass jemand eingetreten war. Als sie es bemerkte, stand der Mann schon vor ihrem Schreibtisch und sah auf sie hinab.
    »Melden Sie mich bitte dem Geschäftsführer«, sagte er. Der Mann sprach, als ob er mit einem Handschuh Staub vom Schreibtisch fegen würde.
    Das Mädchen hatte nicht die leiseste Ahnung, was los war. Sie hob den Kopf und sah den Mann an. Für einen Kunden war sein Blick zu stechend, für einen Steuerbeamten trug er zu gute Kleidung, und für einen Polizisten wirkte er zu intellektuell. Andere Berufe fielen ihr beim besten Willen nicht ein. Der Mann stand ihr im Weg wie eine veredelte Hiobsbotschaft, aufgetaucht aus dem Nichts.
    »Er ist zurzeit nicht im Hause«, sagte sie und schlug schnell ihre Zeitschrift zu. »Er sagte, er sei in etwa einer halben Stunde wieder zurück.«
    »Ich warte«, sagte der Mann, ohne auch nur einen Wimpernschlag lang zu zögern. Es schien, als habe er von vornherein nichts anderes erwartet.
    Das Mädchen wollte ihn zuerst nach seinem Namen fragen, führte ihn aber dann doch direkt ins Empfangszimmer. Der Mann setzte sich auf das himmelblaue Sofa, schlug die Beine übereinander, richtete den Blick auf die elektrische Uhr an der Stirnwand und verharrte dann in dieser Position. Er machte keine einzige überflüssige Bewegung. Als das Mädchen ihm später kalten Tee brachte, hatte er sich keinen Millimeter gerührt.
    »Genau da, wo du jetzt sitzt«, sagte mein Partner. »Da hat er gesessen, geschlagene dreißig Minuten, immer in derselben Position, und auf die Wanduhr gestarrt.«
    Ich betrachtete mir die Vertiefung im Sofa, auf dem ich saß, und dann sah ich zu der elektrischen Wanduhr hoch. Danach sah ich wieder zu meinem Partner.
    Der Mann war trotz der für Ende September außergewöhnlichen Hitze draußen sehr korrekt gekleidet. Aus den Ärmeln des gut geschnittenen Anzugs schauten um präzise anderthalb Zentimeter die Manschetten des weißen Hemdes hervor, die Krawatte mit einem Muster farbig fein aufeinander abgestimmter Streifen war mit Sorgfalt so gebunden, dass sie einen Hauch von Asymmetrie vermittelte, und die Schuhe aus schwarzem Korduanleder waren auf Hochglanz poliert.
    Der Mann war um die Mitte dreißig bis vierzig, über 1,75 Meter groß und hatte nicht ein Gramm Fett zu viel auf dem Leib. Seine schmalen Hände waren faltenlos glatt; die langen schlanken Finger ließen an Herdentiere denken, die sich trotz jahrelanger Dressur und Domestikation tief im Innern weiter ihrer wilden Abstammung erinnern. Die Nägel waren unter großem Aufwand an Zeit und Mühe bis zur Perfektion poliert, die Fingerspitzen beschrieben zehn sehenswerte Ellipsen. Schöne Hände in der Tat, die aber irgendetwas Merkwürdiges hatten. Sie wiesen auf eine hohe Spezialisierung in einem sehr begrenzten Fachbereich – in welchem, hätte niemand zu sagen gewusst.
    Das Gesicht des Mannes verriet nicht so viel wie die Hände. Es war edel, aber einförmig und ausdruckslos. Der Nasenrücken und die Augen waren gerade, wie im Nachhinein geschnitzt, die Lippen dünn und trocken. Der Mann war dunkel sonnengebräunt, aber nicht vom Spiel am Strand oder auf dem Tennisplatz; das sah man sofort. Seine Bräune stammte von einer anderen Sonne, die hoch über anderen Orten scheint.
    Die Zeit verging erschreckend langsam. Dreißig Minuten, kalt und hart wie der sich gen Himmel herausschraubende Bolzen einer gigantischen Maschine. Als mein Partner von der Bank zurückkam, schien die Luft im Zimmer unerträglich schwer. Als ob, extrem ausgedrückt, alles im Zimmer am Boden festgenagelt worden wäre.
    »Natürlich hatte ich nur diesen Eindruck«, sagte mein Partner.
    »Natürlich«, sagte ich.
    Das Mädchen, das allein den Telefondienst versehen hatte, war vor Anspannung bereits völlig erschöpft. Mein Partner ging ahnungslos ins Empfangszimmer und stellte sich als Geschäftsführer vor. Jetzt rührte sich der Mann zum ersten Mal, zog aus der Brusttasche eine schlanke Zigarette, zündete sie an und stieß umständlich den Rauch aus. Die Atmosphäre lockerte sich um eine Winzigkeit.
    »Ich habe nicht viel Zeit, machen wir es kurz«, sagte der Mann ruhig. Dann schnippte er eine funkelnagelneue Visitenkarte aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Schreibtisch. Die Karte war aus plastikähnlichem Spezialpapier, fast unnatürlich weiß; in kleinen, tiefschwarzen Lettern stand ein Name darauf. Kein Titel, keine Adresse, keine Telefonnummer.

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