Wilde Schafsjagd
Gebäudes an der Hauptstraße gewesen. In Sommernächten blies die Klimaanlage dort feinen Nebel. Wer versackte, wurde nass bis aufs Hemd.
Jays richtiger chinesischer Name war endlos lang und unaussprechlich. Jay hieß er, seitdem ihn GI s auf dem amerikanischen Stützpunkt so nannten, auf dem er nach dem Krieg gearbeitet hatte. Sein richtiger Name war bald vergessen.
Nach dem, was ich früher von Jay selbst gehört hatte, kündigte er 1954 auf dem Stützpunkt und machte in der Nachbarschaft eine kleine Bar auf. Die allererste »Jay’s Bar«. Sie lief relativ gut. Die meisten Gäste waren aus der Offiziersschule der Luftwaffe, und die Stimmung war nicht schlecht. Jay heiratete, als das Geschäft sich einigermaßen eingependelt hatte, aber fünf Jahre später starb seine Frau. Über die Todesursache verlor er nie ein Wort.
Als der Vietnamkrieg 1963 in seine heiße Phase eintrat, verkaufte Jay die Bar und zog weit weg, in »unsere« Stadt. Und eröffnete die zweite »Jay’s Bar«.
Das war alles, was ich über Jay wusste. Er hatte eine Katze, rauchte eine Packung Zigaretten am Tag und trank keinen Tropfen Alkohol.
Bis ich Ratte kennen lernte, ging ich immer alleine in »Jay’s Bar«. Ich nuckelte an meinem Bier, rauchte, warf mein Kleingeld in die Jukebox und hörte Platten. Damals war der Laden meist leer, und Jay und ich unterhielten uns am Tresen über alles Mögliche. Ich hab keine Ahnung mehr, worüber. Was hätten sich ein wortkarger siebzehnjähriger Oberschüler und ein chinesischer Witwer auch schon groß erzählen können?
Als ich mit achtzehn die Stadt verließ, nahm Ratte meinen Platz ein und trank Bier in »Jay’s Bar«. Als er 1973 aus der Stadt verschwand, war niemand da, der seinen Platz hätte einnehmen können. Ein halbes Jahr später wurde die Hauptstraße verbreitert, und die Kneipe musste umziehen. So endeten unsere Legenden um die zweite »Jay’s Bar«.
Die dritte »Jay’s Bar« lag am Fluss, fünfhundert Meter vom alten Platz entfernt. Groß war sie nicht, aber sie lag im zweiten Stock eines neuen vierstöckigen Gebäudes mit Fahrstuhl. Es war schon eigenartig, mit dem Fahrstuhl zu »Jay’s Bar« raufzufahren und vom Barhocker aus auf die Lichter der Stadt zu blicken!
In Jays neuer Kneipe gab es je ein großes Fenster im Westen und im Süden; man konnte auf die Bergkette und die Stelle sehen, wo früher das Meer begann. Das Meer war dort vor einigen Jahren zugeschüttet und mit Hochhäusern bebaut worden, in Reih und Glied aufgestellt wie Grabsteine. Ich stand eine Weile am Fenster und sah mir die nächtliche Landschaft an, dann setzte ich mich wieder an den Tresen.
»Früher hätte man das Meer sehen können«, sagte ich.
»Ja«, sagte Jay.
»Ich war dort oft schwimmen.«
»Ja«, sagte Jay und zündete sich mit einem offenbar schweren Feuerzeug die Zigarette zwischen den Lippen an, »Sauerei. Erst haben sie die Berge platt gewalzt und Häuser gebaut, um dann mit der abgetragenen Erde das Meer zuzuschütten und noch mehr Häuser zu bauen. Und finden es auch noch großartig!«
Ich trank schweigend mein Bier. Aus den Lautsprechern an der Decke ertönte der neueste Boz-Scaggs-Hit. Die Jukebox war verschwunden. Ein Großteil der Gäste waren Studentenpärchen, die ordentliche Klamotten trugen und brav an ihrem Whiskey-Soda oder Cocktail nippten. Kein Mädchen kurz vorm alkoholbedingten Blackout, keine prickelnde Wochenendschlägerei. Wenn sie nach Hause kommen, ziehen sie sich bestimmt alle schön brav ihre Schlafanzüge an, putzen sich exakt drei Minuten die Zähne und gehen ins Bett. Aber das ist gut so. Brav und anständig sein ist wunderbar. Es existieren nun mal keine Vorschriften, wie die Dinge auf der Welt im Allgemeinen und in einer Kneipe im Besonderen zu sein haben.
Jay war die ganze Zeit meinem Blick gefolgt.
»Du kannst dich wohl nicht daran gewöhnen, dass sich der Laden verändert hat?«
»Doch, doch«, sagte ich. »Das Chaos hat ja nur seine äußere Form geändert. Die Giraffe hat mit dem Bär den Hut getauscht und der Bär mit dem Zebra das Halstuch.«
»Du hast dich jedenfalls nicht geändert«, lachte Jay.
»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte ich. »Und wenn sich die Zeiten ändern, ändert sich eine ganze Menge mit. Aber das ist schließlich gut so. Jeder wird früher oder später ausgetauscht. Man kann sich nicht beschweren.«
Jay sagte nichts.
Ich trank ein neues Bier, Jay rauchte eine neue Zigarette.
»Und, wie geht’s dir so?«, fragte
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