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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Fortschritt.
    Die erste Bitte ist eher sentimental. Das heißt, es geht um die »Vergangenheit«. Als ich vor fünf Jahren übereilt und völlig durcheinander die Stadt verließ, habe ich vergessen, mich von einigen Leuten zu verabschieden. Genauer gesagt, von Dir, von Jay und von einer Frau, die Du nicht kennst. Dich werde ich noch einmal treffen und mich von Dir richtig verabschieden können, hab ich das Gefühl. Aber bei den anderen beiden wird es wahrscheinlich keine Gelegenheit mehr dazu geben. Deshalb möchte ich, dass Du ihnen von mir Lebewohl sagst, wenn Du noch mal in die Gegend kommst.
    Ich weiß natürlich, dass das eine sehr egoistische Bitte ist. Ich müsste ihnen eigentlich selbst schreiben. Aber, um ehrlich zu sein, möchte ich, dass Du in die Stadt zurückfährst und die beiden persönlich triffst. Ich glaube, damit wird mein Gefühl besser ausgedrückt als mit einem Brief. Die Adresse und Telefonnummer der Frau lege ich bei. Falls sie mittlerweile umgezogen oder verheiratet sein sollte, lass es dabei. Fahr einfach wieder zurück. Aber wenn sie immer noch in derselben Wohnung wohnt, besuch sie bitte und grüß sie von mir.
    Und grüß auch Jay von mir. Trink ein Bier für mich mit.
    Das war die erste Bitte.
    Die zweite ist etwas verrückt.
    Ich lege ein Foto bei. Ein Foto von Schafen. Ich möchte, dass Du dieses Foto unter die Leute bringst – wo, ist mir gleich. Ebenfalls ein ziemlich egoistischer Wunsch, aber ich habe außer Dir niemanden, den ich darum bitten könnte. Du kannst all meinen Sex-Appeal haben, wenn Du willst, aber diesen einen Wunsch musst Du mir erfüllen. Den Grund kann ich Dir nicht sagen, aber dieses Foto ist mir äußerst wichtig. Irgendwann später werde ich Dir vielleicht alles erklären können.
    Ich lege einen Scheck bei. Bezahl damit, was gerade so anfällt. Um das Geld brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen. Hier weiß man sowieso nicht, wie man es ausgeben soll. Außerdem ist das das Einzige, was ich im Moment beisteuern kann.
    Und vergiss auf keinen Fall, ein paar Bierchen für mich mitzutrinken!
    Ratte
    * * *
    Als ich die aufgeklebten Nachsendezettel abgezogen hatte, war der Poststempel nicht mehr zu entziffern. Im Umschlag steckten ein Bankscheck über hunderttausend Yen, ein Blatt mit Namen und Adresse der Frau und ein Schwarzweißfoto mit Schafen.
    Beim Verlassen der Wohnung hatte ich den Brief aus dem Briefkasten genommen und las ihn jetzt am Schreibtisch in der Firma. Blassgrünes Briefpapier wie beim letzten Mal, und der Scheck war auf eine Bank in Sapporo ausgestellt. Das deutete darauf hin, dass Ratte nach Hokkaido weitergezogen war.
    Die Geschichte mit den Lawinen sagte mir zwar nicht besonders viel, aber ansonsten schien mir der Brief, wie Ratte selbst geschrieben hatte, sehr ernst gemeint zu sein. Außerdem verschickt niemand zum Spaß einen Scheck über hunderttausend Yen. Ich öffnete eine Schublade des Schreibtischs und warf den Umschlag mit allem, was drin war, erst mal hinein.
    Der Frühling in jenem Jahr war für mich nicht besonders gut verlaufen, schon allein, weil meine Ehe in die Brüche ging. Meine Frau war schon vier Tage nicht nach Hause gekommen. Die Milch im Kühlschrank verbreitete einen unangenehmen Geruch, und der Kater hatte ständig Hunger. Ihre Zahnbürste im Badezimmer war ausgetrocknet wie ein Fossil. Doch auch diese Wohnung wurde von trägen Frühlingsstrahlen überflutet. Zumindest Sonnenschein gibt’s immer umsonst.
    Eine verlängerte Sackgasse – vielleicht hatte meine Frau Recht.

3. DAS LIED IST AUS
    Im Juni fuhr ich schließlich in meine Heimatstadt.
    Ich erfand einen plausiblen Grund, um mir drei Tage freizunehmen, und stieg an einem Dienstagmorgen in den Shinkansen-Superexpress ein. Mit meinem kurzärmeligen weißen Polohemd, den an den Knien durchgescheuerten grünen Baumwollhosen, weißen Turnschuhen und ohne Gepäck – ich hatte sogar vergessen, mich nach dem Aufstehen zu rasieren. Die Turnschuhe, die ich schon ewig nicht mehr getragen hatte, waren unvorstellbar schiefgelaufen. Ich muss, ohne es zu wissen, einen sehr unnatürlichen Gang gehabt haben.
    Ohne Gepäck in einen Zug zu steigen und weit weg zu fahren ist ein tolles Gefühl! Wie ein Torpedoflugzeug, das friedlich spazieren fliegt und plötzlich in einem Raum-Zeit-Loch gefangen ist. Dort gibt es nämlich wirklich nichts: keine Zahnarzttermine und keine Probleme, die in der Schreibtischschublade darauf warten, gelöst zu werden. Keine zwischenmenschlichen

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