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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Beziehungen, in die man so stark verwickelt wird, dass man ihnen nicht mehr entrinnen kann. Keine durch Vertrauensbekundungen erzwungenen Gefälligkeiten. Das alles konnte ich in einem einstweiligen Abgrund hinter mir lassen. Alles, was ich besaß, waren die alten Turnschuhe mit ihren völlig schiefgelaufenen Gummisohlen. Sie hafteten an meinen Füßen wie vage Erinnerungen an eine andere Zeit und einen anderen Raum, aber das war kein großes Problem. Mit ein paar Dosen Bier und einem herzhaften Schinkensandwich würden sie sich leicht herunterspülen lassen.
    Es war das erste Mal seit vier Jahren, dass ich in die Stadt zurückfuhr. Beim letzten Mal vor vier Jahren war ich sozusagen geschäftlich da, wegen irgendwelcher Formalitäten für meine Eheschließung. Aber es war eine sinnlose Reise – denn was ich für eine rein geschäftliche Angelegenheit hielt, mag für andere gar nicht so ausgesehen haben. Es kommt ganz auf die Einstellung an. Was für die einen vorbei ist, muss für andere noch lange nicht vorbei sein. So einfach ist das. Aber am anderen Ende der Schienen kann sich dieser einfache Sachverhalt zu einem großen Gegensatz auswachsen.
    Danach gab es für mich keine »Heimatstadt« mehr. Bei dem Gedanken, dass nirgendwo mehr ein Ort existierte, an den ich zurückkehren muss, fiel mir ein Stein vom Herzen. Niemand will mich mehr treffen. Niemand verlangt mehr nach mir, und niemand wünscht sich mehr, dass ich nach ihm verlange.
    Nach zwei Dosen Bier schlief ich eine halbe Stunde. Als ich aufwachte, war das erste beschwingte Gefühl der Befreiung schon völlig verflogen. Je weiter der Zug fuhr, desto mehr zog sich der Himmel mit dem trägen Grau der Regenzeit zu. Darunter breitete sich die gewohnte langweilige Landschaft aus. Wie schnell man auch fährt, dieser Langeweile kann man nicht entrinnen. Im Gegenteil: Je schneller man fährt, desto schneller ist man mittendrin. So ist das mit der Langeweile.
    Neben mir saß ein Geschäftsmann Mitte zwanzig, reglos in seine Wirtschaftszeitung vertieft. Faltenloser dunkelblauer Sommeranzug, schwarze Schuhe. Weißes Hemd, frisch aus der Reinigung. Ich sah an die Decke des Abteils und rauchte meine Zigarette. Zum Zeitvertreib begann ich Beatles-Titel aufzuzählen. Ich kam auf 73, dann fiel mir keiner mehr ein. Auf wie viele würde wohl Paul McCartney kommen?
    Ich sah eine Weile aus dem Fenster und dann wieder an die Decke.
    Ich war neunundzwanzig, und in sechs Monaten würden meine Zwanziger zu Ende sein. Zehn Jahre, in denen sich nichts, aber auch gar nichts getan hatte. Alles, was ich besaß, war wertlos, alles, was ich getan hatte, sinnlos. Langeweile war das Einzige, was ich gewonnen hatte.
    Was am Anfang gestanden hatte, wusste ich schon nicht mehr. Aber es musste etwas dagewesen sein. Etwas, das mein Herz bewegt und das über mich die Herzen anderer bewegt hatte. Aber was immer es auch war, es war mir abhanden gekommen. Es hatte mir abhanden kommen müssen. Denn was war mir übrig geblieben, was war mir anderes übrig geblieben, als alles loszulassen?
    Zumindest habe ich überlebt. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer, schön, aber ich musste einfach mit dem Leben davonkommen.
    Warum?
    Um einer Wand Geschichten zu erzählen?
    Come on!
    »Warum hast du denn ein Hotel genommen?«, fragte Jay verwundert, als ich ihm die Telefonnummer meines Hotels auf die Rückseite eines Streichholzheftchens schrieb. »Du hast doch dein Zuhause, warum bleibst du nicht da?«
    »Das ist nicht mehr mein Zuhause«, sagte ich.
    Und Jay sagte nichts mehr dazu.
    Als drei Teller mit Appetithäppchen vor mir standen und ich mein Bier halb getrunken hatte, holte ich Rattes Briefe heraus und gab sie Jay. Er wischte sich die Hände an einem Handtuch ab, überflog die beiden Briefe kurz, um sie dann noch einmal Wort für Wort zu lesen.
    »Hhm«, sagte er bewegt. »Den gibt’s also auch noch.«
    »Sicher«, sagte ich und trank an meinem Bier. »Übrigens, ich würde mich gern rasieren, kannst du mir vielleicht ein Rasiermesser und Rasiercreme leihen?«
    »Klar«, sagte Jay und holte hinter der Theke ein Reisenecessaire hervor.
    »Du kannst das Becken in der Toilette benutzen, aber warmes Wasser gibt’s da nicht.«
    »Kaltes reicht«, sagte ich. »Hauptsache, keine Betrunkene pennt auf den Fliesen – dabei rasiert’s sich so schlecht.«
    »Jay’s Bar« hatte sich völlig verändert. Die alte »Jay’s Bar« war ein kleiner, feuchtdunstiger Laden im Keller eines baufälligen

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