Wilde Schafsjagd
holen und ordnungsgemäß wegzuwerfen. Aber tun Sie’s nicht wieder.«
»Nein, bestimmt nicht«, sagte ich. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte der Nachtwächter und ging.
Ich legte mich auf den Wellenbrecher und sah in den Himmel. Wie der Nachtwächter gesagt hatte, begann es allmählich leicht zu regnen. Ich rauchte noch eine Zigarette und ließ die Unterredung mit dem Nachtwächter noch einmal Revue passieren. Vor zehn Jahren wäre ich jedenfalls tougher gewesen. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Ist ja auch egal.
Als ich zum Fluss zurückgegangen war und ein Taxi erwischt hatte, fiel nebliger Regen. Zum Hotel bitte, sagte ich.
»Auf Urlaub?«, fragte der ältere Taxifahrer.
»Ja.«
»Das erste Mal hier?«
»Das zweite Mal«, sagte ich.
4. SIE TRINKT SALTY DOG UND ERZÄHLT VOM WELLENRAUSCHEN
»Ich habe zwei Briefe für Sie«, sagte ich.
»Für mich?«, sagte sie.
Ihre Stimme klang sehr weit weg, und die Telefonverbindung war noch dazu so gestört, dass wir schreien mussten, was den feinen Nuancen unserer Aussagen ohne Frage abträglich war. Wie eine Unterredung in stürmischen Höhen mit hochgeschlagenen Mantelkragen.
»Eigentlich sind es Briefe an mich, aber es kam mir so vor, als seien Sie gemeint.«
»Es kam Ihnen so vor?«
»Ja«, sagte ich. Und nachdem ich das gesagt hatte, kam ich mir selten dämlich vor.
Sie schwieg eine Weile. Unterdes verschwanden die Störgeräusche in der Leitung.
»Was zwischen Ihnen und Ratte war, weiß ich nicht. Ich rufe an, weil er mich gebeten hat, Sie zu treffen. Außerdem halte ich es für besser, wenn Sie die Briefe selbst lesen.«
»Sind Sie deswegen eigens aus Tokyo angereist?«
»Ja.«
Sie hustete. »Verzeihung. – Weil Sie sein Freund sind?«
»Ich glaube, ja.«
»Warum schreibt er mir denn nicht selbst?«
Die Logik war auf ihrer Seite.
»Das weiß ich nicht«, sagte ich ehrlich.
»Und ich erst recht nicht. Ist doch schon alles aus und vorbei, oder etwa nicht?«
Auch das wusste ich nicht und sagte es ihr. Ich lag auf dem Bett im Hotelzimmer, den Telefonhörer in der Hand, und sah an die Decke. Ein Gefühl, als läge ich auf dem Meeresboden und zählte Fischsilhouetten. Wie viele ich zählen musste, um zum Ende zu kommen, hätte ich nicht sagen können.
»Es ist jetzt fünf Jahre her, seit er plötzlich verschwunden ist. Ich war damals siebenundzwanzig.« Ihre Stimme war ganz ruhig, aber für mich hörte sie sich an, als käme sie aus der Tiefe eines Brunnens. »Nach fünf Jahren hat sich vieles verändert.«
»Ja«, sagte ich.
»Selbst wenn sich nichts verändert hätte, würde man das nicht einsehen wollen. Wenn man es sich nämlich eingestehen würde, käme man überhaupt nicht mehr weiter. Deshalb bildet man sich lieber ein, man habe sich völlig verändert.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich.
Wir schwiegen eine Weile. Sie ergriff als Erste wieder das Wort.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«
»Vor fünf Jahren, im Frühjahr, kurz bevor er verschwand.«
»Hat er Ihnen etwas gesagt? Zum Beispiel, warum er die Stadt verlassen will?«
»Nein«, sagte ich.
»Er ist einfach verschwunden, ohne etwas zu sagen, nicht wahr?«
»Ja, genau.«
»Was haben Sie damals gedacht?«
»Darüber, dass er ohne etwas zu sagen verschwunden ist?«
»Ja.«
Ich setzte mich auf und lehnte mich an die Wand. »Hmh. Ich dachte, er käme nach einem halben Jahr oder so zurück, weil er’s satt hätte. Ich hielt ihn nicht gerade für den Typ, der etwas lange durchhält.«
»Aber er ist nicht zurückgekommen.«
»Das stimmt.«
Am anderen Ende der Leitung schien sie eine Weile mit sich zu kämpfen. Die ganze Zeit hatte ich ihr leises Atmen im Ohr.
»Wo übernachten Sie?«, fragte sie schließlich.
»Im Hotel __.«
»Ich komme morgen um fünf ins Hotelcafé im achten Stock, gut?«
»Ja, gut«, sagte ich. »Ich trage ein weißes Polohemd und grüne Baumwollhosen. Ich habe kurzes Haar und …«
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie aussehen«, unterbrach sie mich ruhig und legte auf.
Als ich den Hörer wieder auf die Gabel gelegt hatte, versuchte ich dahinterzukommen, warum sie sich vorstellen konnte, wie ich aussah. Ich kam nicht dahinter. Aber es gibt vieles, hinter das ich nicht komme. Ich werde bestimmt auch mit dem Alter nicht klüger. Ein russischer Schriftsteller schrieb einmal, der Mensch könne zwar seinen Charakter bis zu einem gewissen Grade ändern, die Mittelmäßigkeit jedoch habe ewigen
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