Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
des Flusses. Ich folgte dem Lauf seines Wassers. Ich konnte seinen Atem spüren. Er lebte. Er war es, der die Stadt geschaffen hatte. Seit Tausenden von Jahren trug er den Berg ab, spülte Erde weg, füllte das Meer auf und ließ Bäume wachsen. Von Anfang an hatte die Stadt ihm gehört. Und es sah ganz so aus, als würde es auch dabei bleiben.
    Da gerade Regenzeit war, floss das Wasser durch bis zum Meer, ohne vom Flussbett aufgesogen zu werden. Es roch nach jungem Grün von den Bäumen, mit denen das Ufer bepflanzt war. Die Luft schien völlig vom Grün vereinnahmt zu sein. Auf dem Gras saßen Pärchen, und ein alter Mann führte seinen Hund spazieren. Ein Oberschüler war vom Rad gestiegen und rauchte. Ein ganz gewöhnlicher Frühsommerabend.
    In einem Laden am Weg kaufte ich zwei Dosen Bier, ließ sie mir in eine Papiertüte einpacken und schlenderte damit zum Meer. Der Fluss mündete in ein Meer, das wie eine kleine Bucht oder wie ein halb zugeschütteter Kanal aussah. Der auf fünfzig Meter Breite zusammengeschrumpfte Überrest der alten Küste. Der Strand sah aus wie immer. Kleine Wellen schwemmten abgerundete Holzteile an. Es roch nach Meer. Auf den Wellenbrechern aus Beton sah man noch Nägel und aufgesprühte Graffiti von früher. Ganze fünfzig Meter hatte man von der guten alten Küste übrig gelassen! Sie waren solide eingeschlossen von zwei zehn Meter hohen Betonmauern, die, das schmale Meer zwischen sich, einige Kilometer weit hinausreichten. Oberhalb dieser Mauern standen die Hochhäuser. Indem man das Meer auf fünfzig Meter zusammenstutzte, hatte man es im Grunde vollkommen ausgelöscht.
    Ich ging vom Fluss weg nach Osten, entlang der früheren Küstenstraße. Seltsamerweise waren auch hier die alten Wellenbrecher noch da. Wellenbrecher ohne Meer – groteske Existenzen. Ich blieb an der Stelle stehen, wo ich früher oft mein Auto geparkt hatte, um aufs Meer zu schauen. Ich setzte mich auf einen Wellenbrecher und trank mein Bier. Anstelle des Meeres sah man jetzt auf neu gewonnenes Land und ausdruckslose Hochhäuser. Unglückliche Brückenpfeiler für eine Stadt in den Lüften, die man nie gebaut hatte, unmündige Kinder, die auf die Rückkehr ihres Vaters warten.
    Zwischen den Häusern verliefen Asphaltwege, die sie wie Nähte zusammenhielten. Man sah einen Bushof, einen riesigen Parkplatz, einen Supermarkt, eine Tankstelle, einen großen Park und ein imposantes Gemeindehaus. Alles war neu und unnatürlich. Die von den Bergen abgetragene Erde besaß die für neu gewonnenes Land charakteristische kalte Farbe, und die noch unbebauten Stellen waren mit Unkraut übersät, das der Wind herübergetragen hatte. Das Unkraut hatte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf dem neuen Land Wurzeln geschlagen und wucherte auf allen freien Stellen, wie zum Hohn für die entlang der Asphaltwege künstlich angepflanzten Bäume und Rasenflächen.
    Ein trauriger Anblick.
    Aber was konnte ich schon groß sagen? Hier hatte längst ein neues Spiel mit neuen Regeln begonnen. Niemand konnte es mehr aufhalten.
    Als ich das Bier getrunken hatte, warf ich die leeren Dosen kurzerhand auf das Land, das früher einmal Meer war. Sie versanken in dem im Wind wogenden Meer von Unkraut. Ich rauchte eine Zigarette.
    Als ich sie zu Ende geraucht hatte, sah ich einen Mann mit einer Taschenlampe langsam auf mich zukommen. Er war Anfang vierzig, hatte ein graues Hemd und eine graue Hose an und einen grauen Hut auf dem Kopf. Sicher der Nachtwächter der Anlage.
    »Sie da, Sie haben doch gerade was weggeworfen!«, sagte er, als er neben mir angekommen war.
    »Ja«, sagte ich.
    »Und was?«
    »Runde Gegenstände aus Metall mit Deckel«, sagte ich.
    Der Nachtwächter sah etwas überrascht aus. »Warum haben Sie sie weggeworfen?«
    »Ohne besonderen Grund. Ich werfe schon seit zwölf Jahren. Habe sogar schon mal ein halbes Dutzend auf einmal weggeworfen, ohne dass sich jemand beschwert hätte.«
    »Vorbei ist vorbei«, sagte der Nachtwächter. »Jetzt ist das hier städtisches Eigentum, und Verschmutzung städtischen Eigentums ist verboten.«
    Ich schwieg eine Weile. Irgendetwas in mir regte sich einen Augenblick lang und blieb dann still. »Das Problem ist, dass das, was Sie sagen, vernünftig klingt«, sagte ich.
    »Das Gesetz bestimmt es so«, sagte der Mann.
    Ich seufzte und holte eine Schachtel Zigaretten aus meiner Tasche. »Und, was soll ich jetzt machen?«
    »Bei Regen und Dunkelheit kann ich nicht von Ihnen verlangen, die Sachen zu

Weitere Kostenlose Bücher