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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Bestand. Russen machen von Zeit zu Zeit äußerst treffende Bemerkungen. Die denken sie sich wahrscheinlich im Winter aus.
    Ich ging unter die Dusche und wusch mir die Haare, die im Regen nass geworden waren. Mit dem Badetuch um die Hüften sah ich mir einen alten amerikanischen U-Boot-Film im Fernsehen an. Die Handlung war überaus tragisch: Der Kapitän und der Erste Offizier trugen eine Art Privatkrieg miteinander aus, das U-Boot hatte höchstens noch musealen Wert, und zu allem Überfluss litt ein Besatzungsmitglied an Klaustrophobie. Am Ende ging trotzdem alles gut aus. Ein Film nach dem Motto, wenn sogar das alles happy endet, ist der Krieg doch auch nicht so schlimm. Demnächst machen sie einen Film, in dem sich die gesamte Menschheit in einem Atomkrieg vernichtet. Natürlich mit Happy-End.
    Ich stellte den Fernseher ab, kroch ins Bett und war in zehn Sekunden eingeschlafen.
    * * *
    Am nächsten Tag um fünf nieselte es immer noch. Man hatte schon gedacht, die Regenzeit sei zu Ende, da das Wetter für vier, fünf Tage vollkommen sommerlich klar gewesen war. Vom Fenster im achten Stock sah die Erdoberfläche bis in den letzten Winkel schwarz durchtränkt aus. Auf der zur Hochstraße umgebauten Schnellstraße staute sich von Westen in Richtung Osten kilometerlang der Verkehr. Wenn man lange genug hinsah, bekam man den Eindruck, die Autos schmölzen im Regen langsam dahin. Ja, eigentlich sah alles in der Stadt so aus, als habe es zu schmelzen begonnen: die Wellenbrecher am Hafen, die Kräne, die Häuserreihen, die Menschen unter ihren schwarzen Regenschirmen. Von den Bergspitzen glitt lautlos schmelzendes Grün. Ich schloss die Augen, und als ich sie nach ein paar Sekunden wieder öffnete, war die Stadt wieder zum Normalzustand zurückgekehrt. Aufrecht ragten sechs Kräne in den düsteren Regenhimmel, die Autokolonne setzte sich langsam Richtung Osten in Bewegung, als sei ihr gerade wieder eingefallen weiterzufahren, Schirmknäuel überquerten die Straßen, und das satte Grün auf den Bergen sog zufrieden den Juniregen auf.
    In der Mitte des großen Raums stand, etwas in den Boden eingelassen, ein marineblauer Flügel, an dem eine Frau in einem auffällig pinkfarbenen Kleid typische Hotelcafémusik spielte, untermalt mit Synkopen und viel Arpeggio. Durchaus nicht schlecht, aber sobald der letzte Ton eines Stückes verklungen war, blieb absolut nichts mehr davon zurück.
    Es war schon nach fünf, aber sie war immer noch nicht aufgetaucht. Weil ich nichts Besseres zu tun wusste, trank ich meine zweite Tasse Kaffee und beobachtete die Frau am Flügel. Sie war um die zwanzig und hatte ihr schulterlanges, schweres Haar kunstvoll zu einem Sahnetortenhäubchen frisiert. Passend zum Rhythmus hüpfte das Häubchen fröhlich hin und her, um, wenn das Stück aus war, wieder genau in der Mitte zu landen. Bis das nächste Stück begann.
    Sie erinnerte mich an ein Mädchen von früher. Ich war in der dritten Klasse der Grundschule und lernte Klavier spielen. Weil wir gleich alt und in derselben Musikklasse waren, spielten wir oft im Duett. Ihr Gesicht und ihren Namen habe ich vollkommen vergessen. Nicht vergessen habe ich nur ihre zarten weißen Finger, ihr schönes Haar und ihre bauschigen Kleider. An alles andere konnte ich mich nicht mehr erinnern.
    Als ich an sie dachte, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Wenn ich ihre Finger, ihr Haar und ihre Kleider an mich gerissen hatte, musste doch der Rest jetzt noch irgendwo weiterleben. Aber selbstverständlich ist so etwas unmöglich. Die Welt dreht sich unabhängig von mir weiter. Unabhängig von mir überqueren die Menschen die Straßen, spitzen ihre Bleistifte, bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern pro Stunde von Westen nach Osten fort und berieseln Hotelcafés mit auf null herunterpolierter Musik.
    Die »Welt« – dieses Wort erinnert mich immer an einen Elefanten und eine Schildkröte, die unverdrossen eine riesige Scheibe stützen. Der Elefant begreift die Rolle der Schildkröte nicht, die Schildkröte nicht, was der Elefant macht, und beide wissen nichts von der Welt.
    »Entschuldigen Sie, dass ich mich verspätet habe«, hörte ich eine Frauenstimme hinter mir sagen. »Ich kam einfach nicht aus dem Büro weg.«
    »Das macht nichts. Ich hatte sowieso den ganzen Tag nichts zu tun.«
    Sie legte den Schlüssel für ihr Schirmschließfach auf den Tisch und bestellte, ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, einen Orangensaft.
    Ihr Alter konnte

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