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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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man auf den ersten Blick nicht einschätzen. Wenn sie es mir nicht zufällig am Telefon gesagt hätte – ich hätte es nie im Leben herausgefunden.
    Wenn man jedoch wusste, dass sie dreiunddreißig war, sah sie auch wie dreiunddreißig aus. Angenommen, sie hätte gesagt, sie sei siebenundzwanzig – sie hätte mit Sicherheit wie siebenundzwanzig ausgesehen.
    Ihr Geschmack war einfach und gut. Sie trug weiße weite Baumwollhosen, dazu eine orange-gelb-karierte Bluse, deren Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, und eine Schultertasche aus Leder. Nichts war neu, aber alles sah gepflegt aus. Keine Ringe, keine Ketten und Armbänder, keine Ohrringe. Ihr kurzer Pony fiel lässig zur Seite.
    Die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln sahen nicht wie Alterserscheinungen aus, sondern so, als gehörten sie schon seit ihrer Geburt zu ihr. Die oberen zwei Blusenknöpfe waren geöffnet, und der Kragen gab den Blick auf ihren feinen, weißen Nacken frei. Einzig und allein dieser Nacken und ihre Handrücken auf dem Tisch deuteten ihr Alter an. Das Altern beginnt an den kleinsten Stellen. Und wie Flecken, die man nicht auswaschen kann, breitet es sich langsam, aber sicher über den ganzen Körper aus.
    »Sie sprachen von Büro, in was für einem Büro arbeiten Sie denn?«, fragte ich.
    »In einem Architekturbüro. Schon ziemlich lange.«
    Das Gespräch stockte. Umständlich nahm ich mir eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie umständlich an. Die Frau am Flügel klappte den Deckel über die Tastatur, stand auf und ging in ihre Pause. Ein ganz klein wenig beneidete ich sie.
    »Seit wann sind Sie sein Freund?«, fragte sie.
    »Schon seit elf Jahren. Und Sie?«
    »Zwei Monate und zehn Tage«, antwortete sie, ohne zu überlegen. »Von dem Zeitpunkt an, als ich ihn zum ersten Mal sah, bis zu seinem Verschwinden. Zwei Monate und zehn Tage. Ich weiß das, weil ich Tagebuch führe.«
    Man brachte ihren Orangensaft und räumte meine leere Kaffeetasse ab.
    »Nachdem er weg war, hab ich drei Monate auf ihn gewartet. Dezember, Januar, Februar. Die kälteste Zeit im Jahr. War der Winter damals eigentlich kalt?«
    »Weiß ich nicht mehr«, sagte ich. Sie sprach von der Kälte des Winters vor fünf Jahren, und es klang, als redete sie über das Wetter von gestern.
    »Haben Sie schon einmal so lange auf eine Frau gewartet?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Wenn man sich eine bestimmte Zeit aufs Warten konzentriert, ist einem irgendwann alles egal. Ob man nun fünf Jahre wartet, oder zehn, oder einen Monat, das ist vollkommen gleich.«
    Ich nickte.
    Sie trank ihren Orangensaft halb aus.
    »Als ich das erste Mal verheiratet war, war es genauso. Ich war immer diejenige, die wartete, bis ich vom Warten müde und mir schließlich alles egal war. Mit einundzwanzig geheiratet, mit zweiundzwanzig geschieden, danach bin ich in diese Stadt gekommen.«
    »Wie bei meiner Frau.«
    »Was?«
    »Sie hat auch mit einundzwanzig geheiratet und war mit zweiundzwanzig geschieden.«
    Sie sah mich eine Weile an. Dann rührte sie mit dem Strohhalm in ihrem Orangensaft. Ich hatte wohl etwas Überflüssiges gesagt.
    »Es ist ziemlich hart, zu heiraten und sich sofort wieder scheiden zu lassen, wenn man so jung ist«, sagte sie. »Um es vereinfacht auszudrücken, man wünscht sich etwas Zweidimensional-Irreales. Aber Irreales hält nie sehr lange. Oder?«
    »Mag sein.«
    »Fünf Jahre – von meiner Scheidung bis ich ihn traf – habe ich hier allein und, na ja, ziemlich irreal verbracht. Ich kannte kaum jemanden, hab nie groß was unternommen, und eine Liebesaffäre hatte ich auch nicht. Ich stand morgens auf, ging ins Büro, zeichnete Baupläne, kaufte auf dem Rückweg im Supermarkt ein und aß zu Hause allein zu Abend. Ich machte das Radio an, las, schrieb mein Tagebuch und wusch im Badezimmer meine Strümpfe aus. Da die Wohnung auf der Meerseite lag, hörte ich ständig das Rauschen der Wellen. Ein kaltes, einsames Leben.«
    Sie trank den Rest ihres Orangensaftes aus. »Ich scheine Sie zu langweilen.«
    Ich schüttelte stumm den Kopf.
    Es war nach sechs. Man dämpfte das Licht, das Café verwandelte sich in eine Cocktailbar. In der Stadt gingen langsam die Lichter an, und an den Kranspitzen leuchteten rote Lämpchen auf. In der matten Abenddämmerung regnete es feine Nadeln.
    »Möchten Sie einen Drink?«, fragte ich.
    »Wie hieß das doch gleich, Wodka mit Grapefruitsaft?«
    »Salty Dog.«
    Ich rief den Kellner und bestellte einen Salty Dog und einen

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