Wilde Schafsjagd
wahrscheinlich, was du brauchst.«
»Bibliotheken mag ich«, sagte sie.
»Umso besser«, sagte ich.
»Soll ich gleich los?«
Ich sah auf die Uhr. Es war halb vier. »Nein, es ist schon zu spät, verschieben wir alles auf morgen. Lass es uns heute langsam angehen: Wir suchen uns ein Hotel, gehen essen, nehmen ein Bad und schlafen.«
»Ich möchte ins Kino«, sagte sie.
»Ins Kino?«
»Haben wir nun mit dem Flugzeug Zeit gespart oder nicht?«
»Wir haben«, sagte ich. Und dann gingen wir ins erstbeste Kino, das wir sahen.
Es lief ein Krimi-Horror-Doppelprogramm, und kaum eine Menschenseele war da. Es war lange her, dass ich in einem so leeren Kino gesessen hatte. Zum Zeitvertreib zählte ich die Zuschauer. Mit uns waren es acht. Auf der Leinwand erschienen bedeutend mehr Leute.
Die Filme waren so ziemlich das Letzte vom Letzten. Filme, bei denen man sich schon umdrehen und weglaufen will, sobald der MGM -Löwe ausgebrüllt hat und der Titel eingeblendet wird. Solche Filme gibt es.
Meine Freundin starrte trotzdem mit todernstem Gesicht auf die Leinwand, als wolle sie sie verschlingen. Sie war offensichtlich nicht anzusprechen. Mir blieb nichts übrig, als ebenfalls zuzuschauen.
Zuerst kam der Horrorfilm. Ein Der-Teufel-beherrscht-eine-Stadt-Film. Der Teufel hauste im feuchten Keller der Kirche und benutzte den schwächlichen Priester als Werkzeug. Warum er ausgerechnet diese Stadt, ein von Maisfeldern umgebenes, armseliges Fleckchen, beherrschen wollte, wusste nur er selber.
Jedenfalls war der Teufel ganz versessen auf den Ort und ärgerte sich krumm, weil ein einziges kleines Mädchen sich nicht unter seine Gewalt bringen ließ. Wenn er in Wut geriet, zitterte sein glitschiger, grüner Körper wie Wackelpudding. Diese Wutanfälle wenigstens waren ganz nett.
Ein Mann mittleren Alters in der Reihe vor uns schnarchte erbarmungswürdig, wie ein Nebelhorn. In der Ecke vorne rechts war Petting schwersten Grades im Gange. Hinter mir ließ jemand einen lauten Furz. So laut, dass der Mann mittleren Alters für einen Augenblick zu schnarchen aufhörte. Zwei Oberschülerinnen kicherten.
Unwillkürlich musste ich an Bückling denken. Und als ich an ihn dachte, wurde mir endlich klar, dass ich Tokyo verlassen hatte und in Sapporo war. Andersherum ausgedrückt: Ich musste erst einen Furz hören, um zu realisieren, dass ich weit von Tokyo weg war.
Äußerst merkwürdig.
Bei diesen Gedanken schlief ich ein. Im Traum tauchte der grüne Teufel auf. Der Traumteufel war allerdings kein bisschen nett. Stumm starrte er mich aus dem Dunkel heraus an.
Als der Film aus war und im Kino die Lichter angingen, wachte ich auf. Die Zuschauer gähnten einer nach dem anderen, wie auf Verabredung. Ich ging zum Kiosk und kaufte uns zwei Eis. Es war so hart, als stammte es noch vom vorletzten Sommer.
»Hast du die ganze Zeit geschlafen?«
»Ja«, sagte ich. »Wie war’s denn?«
»Toll! Am Schluss explodiert die ganze Stadt!«
»Toll.«
Im Kino war es unangenehm still. Das heißt, nur um mich herum war es unangenehm still. Seltsam.
»Sag mal«, sagte sie. »Hast du nicht auch das Gefühl, dass wir uns bewegen?«
Tatsächlich, sie hatte Recht.
Sie nahm meine Hand. »Lass mich nicht los. Ich hab Angst.«
»Ganz ruhig.«
»Wenn du mich nicht hältst, werden wir bestimmt an einen schrecklichen Ort versetzt.«
Im Kino wurde es dunkel, und als die Werbung begann, strich ich ihr Haar zur Seite und küsste sie aufs Ohr. »Alles wird gut. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Hoffentlich«, sagte sie leise. »Wir hätten doch ein Schiff oder die Bahn nehmen sollen, jedenfalls irgendein Fahrzeug mit Namen.«
In den anderthalb Stunden, die der zweite Film dauerte, vollendeten wir unseren Ortswechsel – still, von Kinodunkelheit umhüllt. Ihr Kopf lehnte die ganze Zeit an meiner Schulter; von ihrem Atem wurde sie warm und feucht.
* * *
Nach dem Kino spazierten wir durch die dämmrigen Straßen. Ich hatte meinen Arm um ihre Schultern gelegt. Wir fühlten uns näher als je zuvor. Das Gewusel der Passanten wirkte heimelig, am Himmel schienen milchig-hell die Sterne.
»Sind wir wirklich in der richtigen Stadt?«, fragte sie.
Ich sah zum Himmel auf. Der Polarstern befand sich am richtigen Platz. Aber er sah wie eine Fälschung aus. Zu groß, zu hell.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Irgendetwas stimmt nicht.«
»Das ist immer so, wenn man zum ersten Mal in einer fremden Stadt ist. Dein Körper fühlt sich noch nicht richtig
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