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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hin?«
    »Zeit geht nirgendwohin. Sie summiert sich bloß. Wir können mit diesen zehn Stunden machen, was wir wollen, sei es in Tokyo, sei es in Sapporo. Wenn wir zehn Stunden haben, können wir uns vier Filme ansehen oder zweimal essen gehen. Oder?«
    »Und wenn ich nicht ins Kino will und keinen Hunger habe?«
    »Das ist dein Problem, nicht das der Zeit.«
    Sie biss sich auf die Unterlippe und sah sich eine Zeit lang die untersetzten Jumbos an. Ich schloss mich an. Wenn ich eine Boeing 747 sehe, muss ich immer an die dicke, hässliche Frau denken, die früher bei mir in der Nachbarschaft wohnte. Riesenbrüste bis zum Bauch, in den Beinen die Wassersucht, dürrer Hals. Das Flugfeld war eine einzige Versammlung solcher Frauen. Dutzende von ihnen kamen und gingen. Die Piloten und Stewardessen, die aufrechten Ganges die Flughafenhalle durchschritten, wirkten alle merkwürdig platt, als ob die dicken, hässlichen Frauen ihnen ihre Körperlichkeit genommen hätten. Mir schien, dass es in den guten alten Tagen der DC 7er und der Friendships nicht so gewesen war; vielleicht aber auch nicht. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Vielleicht lag es eben nur daran, dass die Jumbos wie diese dicke, hässliche Frau aussahen.
    »Du, dehnt Zeit sich aus?«, fragte meine Freundin.
    »Nein, Zeit dehnt sich nicht aus«, antwortete ich. Das waren meine Worte, aber es klang nicht nach meiner Stimme. Ich räusperte mich. Der Kaffee war gebracht worden, und ich trank einen Schluck. »Zeit dehnt sich nicht aus.«
    »Aber sie nimmt zu, ja? Du hast selbst gesagt, sie summiert sich.«
    »Nur, weil die Zeit, die man braucht, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, abnimmt. Das Gesamtvolumen der Zeit verändert sich nicht. Du kannst dir eben bloß mehr Filme ansehen.«
    »Vorausgesetzt, ich will mir welche ansehen«, sagte sie.
    Tatsächlich gingen wir gleich nach unserer Ankunft in Sapporo in ein Kino und sahen uns zwei Filme an.

SIEBTES KAPITEL
    Abenteuer im Hotel Delfin
    1. VOLLENDUNG DES ORTSWECHSELS IM KINO –
AUF INS HOTEL DELFIN
    Im Flugzeug saß sie am Fenster und sah die ganze Zeit auf die Landschaft hinaus. Ich saß daneben und las Die Abenteuer des Sherlock Holmes . Nicht ein einziges Wölkchen war am Himmel, und unten auf der Erde sah man den Schatten des Flugzeugs über Berge und Felder gleiten. Genau genommen mussten unsere Schatten auch dabei sein – wir saßen ja im Flugzeug. Was bedeutete, dass wir ebenfalls mit in die Erde eingebrannt waren.
    »Ich mag ihn«, sagte sie und trank ihren Pappbecher-Orangensaft.
    »Wen?«
    »Den Chauffeur.«
    »Ich auch«, sagte ich.
    » Bückling ist außerdem ein schöner Name.«
    »Ohne Frage. Der Kater hätte es bei ihm wahrscheinlich besser als bei mir.«
    »Nicht ›der Kater‹, Bückling !«
    »Richtig, Bückling .«
    »Warum hast du ihm eigentlich die ganze Zeit keinen Namen gegeben?«
    »Tja, warum?«, sagte ich und zündete mir mit dem Schafwappen-Feuerzeug eine Zigarette an. »Wahrscheinlich, weil ich Namen nicht mag. Ich bin ich, du bist du, wir sind wir, sie sind sie; das reicht doch, oder?«
    »Na ja«, sagte sie. »Aber ›wir‹ mag ich. Das klingt so eiszeitlich, findest du nicht?«
    »Eiszeitlich?«
    »Ja, zum Beispiel: › Wir müssen nach Süden ziehen‹, › Wir müssen ein Mammut jagen‹.«
    »Nicht schlecht«, sagte ich.
    Als wir unser Gepäck abgeholt und das Flughafengebäude in Chitose verlassen hatten, war es kälter als erwartet. Ich zog den Pullover, den ich um die Schultern gebunden hatte, über mein T-Shirt, und sie zog ihre Strickjacke an. Hier war der Herbst genau einen Monat früher als in Tokyo eingezogen.
    »Wir hätten uns vielleicht in der Eiszeit begegnen sollen«, sagte sie im Bus nach Sapporo. »Du würdest Mammute jagen, und ich versorgte die Kinder.«
    »Klingt verlockend«, sagte ich.
    Dann schlief sie ein, und ich sah aus dem Busfenster auf den dichten Wald, der sich endlos beiderseits der Straße erstreckte.
    In Sapporo angekommen, gingen wir erst mal in ein Café.
    »Einigen wir uns zunächst auf die grundlegenden Schritte«, sagte ich. »Wir sollten getrennt vorgehen. Ich werde mich um die Landschaft auf dem Foto kümmern, du um das Schaf. Dadurch können wir Zeit sparen.«
    »Klingt vernünftig.«
    »Wenn’s klappt«, sagte ich. »Jedenfalls möchte ich, dass du die ehemaligen Großzüchter und großen Weiden ausfindig machst und etwas über Schafrassen herausfindest. In Bibliotheken oder auf der Präfekturverwaltung findest du

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