Wilde Schafsjagd
nirgendwo anders!«
Ich legte mich aufs Bett, rauchte eine Zigarette, stellte den Fernseher an, schaltete einmal durch alle Programme und stellte ihn wieder ab. Gegen den Empfang immerhin war ausnahmsweise nichts einzuwenden. Das Wasser hörte auf zu laufen, Kleider flogen durch die Badezimmertür, und bald darauf war die Dusche zu hören.
Ich zog die Vorhänge auf. Auf der anderen Straßenseite sah ich die gleichen nichtssagenden Häuser wie das Delfin . Sie waren von einer dünnen, aschigen Schmutzschicht bedeckt und stanken beim bloßen Anblick nach Urin. Es war schon fast neun, doch in einigen Fenstern brannte noch Licht, und dahinter sah man Menschen geschäftig arbeiten. Besonders glücklich sahen sie nicht aus. Aber in ihren Augen sah ich wahrscheinlich auch nicht gerade glücklich aus.
Ich zog die Vorhänge wieder zu, ging zum Bett zurück, legte mich auf die steinhart gestärkten Laken und dachte an meine geschiedene Frau und den Mann, mit dem sie jetzt zusammenlebte. Ich kannte ihn ziemlich gut. Schließlich ist er mein Freund gewesen, da musste ich ihn ja kennen. Siebenundzwanzig und als relativ unbekannter Jazzgitarrist ziemlich in Ordnung. Auch charakterlich. Was ihm fehlte, war ein eigener Stil. Ein Jahr lang hing er zwischen Kenny Burrell und B. B. King, im nächsten zwischen Larry Coryell und Jim Hall.
Warum sie sich nach mir gerade für jemanden wie ihn entschieden hatte, war mir nicht klar. Jeder hat seine Vorlieben für bestimmte Eigenschaften anderer Menschen, sicher. Aber alles, was er mir voraus hatte, war, dass er Gitarre spielen konnte; und ich hatte ihm lediglich voraus, dass ich abwaschen konnte. Die meisten Gitarristen waschen nämlich nicht ab. Eine Handverletzung kostet sie ihre Existenzberechtigung.
Danach dachte ich an Sex mit meiner ehemaligen Frau. Zum Zeitvertreib versuchte ich auszurechnen, wie oft wir in unserer vierjährigen Ehe miteinander geschlafen hatten. Aber die Zahl hätte letztlich nur ungenau sein können, und ungenaue Zahlen sind für mich wertlos. Ich hätte Tagebuch führen oder zumindest Kreuzchen in meinen Kalender machen sollen. Dann hätte ich meine Beischlafrate über den Zeitraum von vier Jahren ganz genau erfassen können. Ich brauche Realität, die sich in harten Zahlen ausdrücken lässt.
Meine geschiedene Frau besaß genaue Aufzeichnungen über ihren Sexualverkehr. Ein Tagebuch führte sie nicht. In DIN -A4-Blöcken hatte sie jedoch vom Zeitpunkt ihrer ersten Periode an genau ihren Menstruationsverlauf aufgezeichnet. Sozusagen als Beilage enthielten diese Blöcke auch die Aufzeichnungen über ihren Sexualverkehr. Sie besaß insgesamt acht solcher Blöcke, die sie in einer verschlossenen Schublade zusammen mit wichtigen Briefen und Fotos aufbewahrte. Sie zeigte sie niemandem. Wie detailliert ihre Aufzeichnungen über Sex waren, weiß ich nicht. Jetzt, wo wir uns getrennt haben, werde ich es auch nie erfahren.
»Wenn ich sterben sollte«, sagte sie oft, »vernichte diese Blöcke bitte. Überschütte sie gut mit Benzin, zünde sie an, und wenn sie vollständig verbrannt sind, vergrab sie. Ich verzeih es dir nie, wenn du auch nur eine Silbe liest.«
»Aber ich schlafe doch schon so lange mit dir! Ich kenne jeden Winkel deines Körpers von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen. Warum bist du denn jetzt auf einmal so schamhaft?«
»Körperzellen erneuern sich monatlich. Und deshalb«, sie hielt mir ihre schlanke Hand vor die Augen, »ist fast alles, was du von mir zu wissen glaubst, nichts als Erinnerung.«
Sie dachte – einmal abgesehen von dem Monat vor unserer Scheidung – alles derart sauber durch. Sie war eine Frau, die die Realitäten des Lebens fest im Griff hatte. Ihr Prinzip lässt sich folgendermaßen ausdrücken: Eine einmal verschlossene Tür lässt sich nicht wieder öffnen, und sie für alle Fälle offen zu lassen ist ebenfalls unmöglich.
Was ich jetzt von ihr weiß, sind nichts als Erinnerungen, die allmählich verschwinden wie abgestorbene Körperzellen. Und ich weiß nicht einmal genau, wie oft ich mit ihr geschlafen habe.
2. DER SCHAFPROFESSOR TRITT AUF
Am nächsten Morgen wachten wir um acht Uhr auf, zogen uns an, fuhren mit dem Aufzug hinunter und frühstückten in einem Café in der Nähe. Im Delfin gab es weder Restaurant noch Café.
»Wie ich gestern schon sagte, wir werden getrennt vorgehen«, sagte ich und gab ihr eine Kopie des Schaffotos. »Ich werde versuchen, anhand der Berglandschaft im Bildhintergrund den Aufnahmeort
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