Wilde Schafsjagd
Wirklichkeit schlief er nur. Von Zeit zu Zeit zitterte seine Nase. Auf dem Nasenrücken hatte er Druckstellen von einer Brille, die jedoch nirgends zu sehen war. Was bedeutete, dass er nicht beim Fernsehen eingeschlafen war. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Ich sah hinter den Rezeptionstisch. Niemand da. Meine Freundin drückte auf den Summer. »Rrring«, hallte es durch die leere Lobby. Wir warteten dreißig Sekunden – keine Reaktion. Auch der Mann auf dem Sofa wurde nicht wach.
Sie klingelte noch einmal.
Der Mann auf dem Sofa brummte. Ein gegen sich selbst gerichtetes, vorwurfsvolles Brummen. Dann öffnete er die Augen und sah uns verschlafen an.
Wie um das Maß voll zu machen, klingelte meine Freundin ein drittes Mal.
Der Mann sprang vom Sofa auf, durchquerte die Lobby und schlüpfte an mir vorbei hinter die Rezeption. Er war der Portier.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte er. »Wirklich, entschuldigen Sie bitte. Ich muss beim Warten plötzlich eingeschlafen sein.«
»Verzeihen Sie, dass wir Sie aufgeweckt haben«, sagte ich.
»Aber nein«, sagte der Portier. Dann reichte er mir den Anmeldeblock und einen Kugelschreiber. An der linken Hand fehlten ihm die oberen Glieder des kleinen und des Mittelfingers.
Ich trug mich zunächst unter meinem richtigen Namen ein, besann mich dann aber eines Besseren, zerknüllte das Formular und ließ es in der Hosentasche verschwinden. Dann füllte ich eines mit falschem Namen und falscher Adresse aus. Eine ganz gewöhnliche Adresse und ein ganz gewöhnlicher Name nur, aber dafür, dass ich sie spontan erdacht hatte, gar nicht schlecht. Als Beruf gab ich Immobilienmakler an.
Der Portier setzte sich die dicke, kunststoffgerahmte Brille auf, die neben dem Telefon gelegen hatte, und las mein Anmeldeformular aufmerksam durch.
»Suginami-ku, Tokyo, neunundzwanzig, Immobilienmakler.«
Ich nahm ein Papiertaschentuch aus der Tasche und wischte mir die Kugelschreibertinte von den Fingern.
»Sind Sie geschäftlich hier?«, fragte der Portier.
»Hmh, ja, kann man sagen«, sagte ich.
»Wie lange bleiben Sie?«
»Einen Monat«, sagte ich.
»Einen Monat?!« Er starrte mich an, als wäre ich ein großes weißes Blatt Papier. »Das heißt, Sie wollen einen ganzen Monat bleiben?«
»Geht das nicht?«
»Nein, ich meine doch , nur, ich verlange immer drei Tage im Voraus.«
Ich setzte das Gepäck ab, zog den Umschlag aus der Tasche, zählte daraus zwanzig Zehntausender ab und legte sie auf den Rezeptionstisch.
»Wenn die nicht mehr reichen, zahle ich nach«, sagte ich.
Der Portier hielt die Scheine mit den drei Fingern der linken Hand fest und zählte sie mit der rechten nach. Dann stellte er mir über die Summe eine Quittung aus. »Haben Sie noch bestimmte Wünsche, das Zimmer betreffend?«
»Wenn es geht, hätten wir gerne ein Eckzimmer, möglichst weit weg vom Aufzug.«
Der Portier drehte mir den Rücken zu, vertiefte sich in das Schlüsselbrett und wählte nach langem Überlegen den Schlüssel mit der Nummer 406. Fast alle Schlüssel hingen am Brett. Das Hotel Delfin war schwerlich als geschäftlicher Erfolg zu bezeichnen.
So etwas wie Hotelpagen existierten im Delfin nicht, und so mussten wir unser Gepäck selbst zum Aufzug tragen. Überflüssigen Firlefanz, wie meine Freundin richtig bemerkt hatte, gab es in diesem Hotel nicht. Der Aufzug bebte und zitterte wie ein schwindsüchtiger Bernhardiner.
»Für längere Aufenthalte ist ein nettes, kleines Hotel wie dieses hier besser geeignet«, sagte sie.
›Nettes, kleines Hotel‹ – keine schlechte Formulierung. Könnte glatt dem Reiseteil einer Frauenzeitschrift entstammen: ›Für einen längeren Aufenthalt empfiehlt sich nichts mehr als ein gemütliches, nettes, kleines Hotel.‹
Nichtsdestoweniger bestanden meine ersten beiden Handlungen im Zimmer unseres netten, kleinen Hotels darin, mit dem Pantoffel einen am Fensterrahmen entlangkriechenden, niedlichen Kakerlak zu erschlagen sowie vom Fußende unseres Bettes zwei Schamhaare aufzulesen und im Papierkorb verschwinden zu lassen. Es war das erste Mal, dass ich auf Hokkaido einen Kakerlaken zu Gesicht bekam. Meine Freundin ließ in der Zwischenzeit das Badewasser ein. Der Geräuschpegel des Wasserhahns ließ ebenfalls nichts zu wünschen übrig.
»Wir können uns auch ein besseres Hotel leisten«, schrie ich ihr durch die Badezimmertür zu. »Geld haben wir genug!«
»Mit Geld hat das nichts zu tun. Unsere Suche nach dem Schaf beginnt hier und
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