Wilde Schafsjagd
von weit her zu mir herüber, als beutele der Wind die Telefonleitung.
»Vielen Dank, dass Sie eigens anrufen, aber die von mir gesuchte Person ist ein Mann«, sagte ich.
»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte sie. »Ich werde jedenfalls auch ›Ratte‹ genannt, und da dachte ich mir, ruf auf alle Fälle mal an …«
»Ja, vielen herzlichen Dank.«
»Keine Ursache. Haben sie denn den Gesuchten gefunden?«
»Noch nicht«, sagte ich. »Leider.«
»Wenn ich die Gesuchte gewesen wäre … aber ich bins nun mal nicht.«
»Nein. Schade.«
Sie schwieg. Ich kratzte mich unterdessen mit dem kleinen Finger hinterm Ohr.
»Eigentlich wollte ich nur mal mit Ihnen reden«, sagte sie.
»Mit mir?«
»Ja. Ich weiß nicht, aber seitdem ich heute Morgen die Anzeige in der Zeitung gelesen habe, habe ich dauernd überlegt, sollst du nun anrufen oder nicht. Wahrscheinlich bin ich Ihnen ja bloß lästig …«
»Dann stimmt es also auch nicht, dass Sie ›Ratte‹ genannt werden?«
»Nein«, sagte sie. »Niemand nennt mich ›Ratte‹. Ich hab ohnehin keine Freunde. Deshalb wollte ich ja mit jemandem reden.«
Ich seufzte. »Ja, jedenfalls, vielen Dank.«
»Entschuldigen Sie bitte. – Kommen Sie aus Hokkaido?«
»Nein, aus Tokyo«, sagte ich.
»Und da sind Sie aus Tokyo gekommen, um Ihren Freund zu suchen?«
»Ganz genau.«
»Wie alt ist er denn?«
»Gerade dreißig geworden.«
»Und Sie?«
»Ich werde in zwei Monaten dreißig.«
»Ledig?«
»Ja.«
»Ich bin zweiundzwanzig. Wenn man älter wird, wird vieles einfacher, oder?«
»Hm, ich weiß nicht«, sagte ich. »Manches wird leichter, manches schwerer.«
»Vielleicht könnten wir darüber einmal in Ruhe reden, beim Essen vielleicht?«
»Es tut mir furchtbar leid, aber ich muss hierbleiben und auf Anrufe warten.«
»Ja, sicher«, sagte sie. »Entschuldigen Sie nochmals.«
»Vielen Dank jedenfalls für Ihren Anruf.«
Damit legte sie auf.
Das konnte durchaus das verschlüsselte Angebot einer Prostituierten gewesen sein. Oder es war tatsächlich nur der Anruf einer einsamen Frau. Wie auch immer, für mich machte das keinen Unterschied: Einen Anhaltspunkt hatte es nicht gebracht.
Am nächsten Tag kam nur ein einziger Anruf – von einem Verrückten. »Probleme mit Ratten? Kein Problem für mich!«, begann er und erzählte fünfzehn Minuten, wie er als Kriegsgefangener in einem sibirischen Lager gegen Ratten gekämpft hatte. Eine interessante Geschichte, aber eine Spur brachte auch sie nicht.
Ich setzte mich auf den völlig durchgesessenen Stuhl neben dem Fenster und beobachtete während des Wartens den ganzen Tag über die Arbeitsbedingungen der Firma im zweiten Stock des Hauses gegenüber. Doch trotz ständiger Beobachtung kam ich nicht dahinter, was man dort eigentlich machte. Die Firma hatte ungefähr zehn Angestellte, und alle liefen wie bei einem Basketballspiel ständig rein und raus. Einer gab einem anderen irgendwelche Papiere, jemand drückte einen Stempel darauf, und wieder ein anderer steckte sie in einen Umschlag und lief damit hinaus. In der Mittagspause schenkte eine Sekretärin mit großem Busen allen Tee ein. Nachmittags ließen sich einige Kaffee bringen. Ich bekam auch Lust auf Kaffee, bat den Portier, Nachrichten für mich entgegenzunehmen, und ging in ein Café in der Nähe. Auf dem Rückweg kaufte ich zwei Dosen Bier. Als ich an meinen Platz zurückkam, war die Zahl der Angestellten auf vier geschrumpft. Die Sekretärin mit dem großen Busen schäkerte mit einem jungen Angestellten. Ich trank mein Bier und beobachtete weiter den Bürobetrieb – mit besonderem Augenmerk auf der Sekretärin.
Je länger ich sie ansah, desto größer wirkte ihr Busen – ungeheuer groß. Ihr BH musste eine Aufhängung haben wie die Golden-Gate-Bridge. Einige der jungen Angestellten träumten offenkundig davon, mit ihr zu schlafen. Ich konnte ihre Lust förmlich spüren – durch zwei Fensterscheiben hindurch und über eine Straße hinweg. Ein merkwürdiges Gefühl, anderer Leute Lust zu spüren. Allmählich bildete ich mir ein, es sei meine eigene.
Als sie sich um fünf umzog und in einem roten Kleid nach Hause ging, zog ich die Vorhänge zu und sah mir im Fernsehen einen alten Bugs Bunny an. So ging der achte Tag im Hotel Delfin zu Ende.
* * *
»Na, großartig!«, sagte ich. Na, großartig wurde allmählich zu meinem Lieblingsspruch. »Jetzt ist schon ein Drittel des Monats vorbei, aber herausbekommen haben wir rein gar nichts!«
»Ja, stimmt«,
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