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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich nicht!«, sagte ich. »Wir stecken doch schon mitten in realen Schwierigkeiten! Und wenn wir das Schaf nicht finden, werden wir in noch größeren stecken. Wie die aussehen werden, weiß ich auch nicht genau, aber wenn die sagen, sie bringen uns in Schwierigkeiten, dann meinen sie echte Schwierigkeiten. Das sind nämlich Profis! Selbst wenn der Boss stirbt, die Organisation wird weiterexistieren, und über ihr Netzwerk, das wie ein Kanalsystem ganz Japan durchzieht, werden sie schon dafür sorgen, dass sie uns rankriegen. Klingt verrückt, aber es ist so.«
    »›Richard Kimble: Auf der Flucht‹.«
    »Genauso verrückt allemal. Nur mit dem Unterschied, dass wir wirklich in der Falle sitzen, und wenn ich wir sage, dann meine ich damit mich und dich . Am Anfang war nur ich betroffen, aber mittlerweile hängst du genauso mit drin. Spürst du noch nicht das Wasser am Hals?«
    »Im Gegenteil, ich liebe so was! Viel besser, als mit Fremden zu schlafen oder meine Ohren ablichten zu lassen oder den Who’s who ? Korrektur zu lesen. Das hier, das ist Leben!«
    »Mit anderen Worten«, sagte ich, »dir steht das Wasser nicht bis zum Hals, und demzufolge ist der Rettungsring auch nicht in Sicht.«
    »Genau. Wir finden das Schaf selbst. So schlecht sind wir beide doch auch wieder nicht.« Das mochte stimmen.
    Wir kehrten ins Hotel zurück und hatten Geschlechtsverkehr. Ich mag das Wort ›Geschlechtsverkehr‹ sehr. Es lässt nur ganz bestimmte Assoziationen zu.
    * * *
    Aber auch unser dritter und vierter Tag in Sapporo verstrichen ergebnislos. Wir standen um acht Uhr auf, frühstückten, trennten uns, gingen unseren Aufgaben nach, tauschten beim Abendessen Informationen aus, kehrten ins Hotel zurück, hatten Geschlechtsverkehr und schliefen. Ich warf die alten Tennisschuhe weg, kaufte neue Mokassins und zeigte Hunderten von Leuten das Schaffoto. Meine Freundin erstellte mit Hilfe der Informationen aus Ämtern und Bibliotheken eine lange Liste von Schafzüchtern und rief die Leute der Reihe nach an. Das Ergebnis war gleich null. Niemand erkannte den Berg, und keiner der Züchter wusste etwas über ein Schaf mit einem sternförmigen Mal auf dem Rücken. Ein alter Mann meinte, einen solchen Berg vor dem Krieg in Südsachalin gesehen zu haben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ratte bis Sachalin gekommen war. Von Sachalin aus kann man keine Eilbriefe nach Tokyo schicken.
    Auch der fünfte Tag verstrich, der sechste ebenso. Der Oktober legte sich schwer über die Stadt. Die Sonnenstrahlen wärmten zwar, aber der Wind frischte auf, und abends musste ich meine leichte Windjacke aus Baumwolle anziehen. Sapporos Straßen waren breit und gerade bis zur Schmerzgrenze. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, wie aufreibend es sein kann, immer nur schnurgerade Straßen entlanggehen zu müssen.
    Es rieb mich tatsächlich langsam auf. Am vierten Tag brach mein Orientierungssinn zusammen. Es begann mit dem unbestimmten Gefühl, das Gegenteil von Osten sei Süden, weshalb ich mir in einem Schreibwarenladen einen Kompass kaufte. Doch als ich mit dem Kompass in der Hand weiterging, wurden die Straßen immer irrealer. Die Gebäude wirkten wie Kulissen in einem Filmstudio und die Passanten zweidimensional wie Pappfiguren. Die Sonne ging an einer Seite der flachen Scheibe auf, beschrieb wie eine Kanonenkugel einen Bogen am Himmel und ging auf der anderen Seite unter.
    Ich trank sieben Tassen Kaffee am Tag und musste stündlich einmal Wasser lassen. Langsam, aber sicher verlor ich meinen Appetit.
    »Gib doch eine Annonce auf«, schlug meine Freundin vor. »›Ratte, melde Dich bei Deinen Freunden‹ oder so.«
    »Keine schlechte Idee«, sagte ich. Unabhängig davon, ob es etwas nutzte oder nicht, es war immerhin besser als Nichtstun.
    Am nächsten Morgen erschien unsere dreizeilige Annonce in vier Tageszeitungen:
     
    Ratte, bitte melden!
    Dringend!!
    Dolphin Hotel, Zimmer 406
    Die nächsten beiden Tage setzte ich mich im Hotelzimmer ans Telefon und wartete. Am ersten Tag kamen drei Anrufe. Ein Bürger der Stadt Sapporo erkundigte sich: »Was bedeutet ›Ratte‹?«
    »›Ratte‹ ist der Spitzname eines Freundes«, antwortete ich.
    Beruhigt legte er auf.
    Der Nächste war ein Scherzbold. »Quiek, quiek«, machte es am anderen Ende der Leitung. »Quiek, quiek.«
    Ich legte auf. In Städten geschehen seltsame Dinge.
    Der dritte Anruf kam von einer Frau mit einer dünnen Stimme.
    »Alle nennen mich ›Ratte‹«, sagte sie. Ihre Stimme drang

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