Wilde Schafsjagd
sagte sie. »Wie es wohl Bückling geht?«
Nach dem Abendessen ruhten wir uns auf dem scheußlich orangefarbenen Sofa in der Lobby des Delfin aus. Wie üblich hielt sich außer uns nur der dreifingrige Portier dort auf. Er wechselte mit Hilfe einer Leiter Glühbirnen aus, putzte die Fensterscheiben, faltete Zeitungen. Das Hotel hatte außer uns vielleicht noch andere Gäste; aber wenn dem so war, dann hatten sich alle wie lichtscheue Mumien mucksmäuschenstill in ihren Zimmern verschanzt.
»Wie läuft Ihr Geschäft?«, fragte der Portier mich schüchtern, während er die Blattpflanzen goss.
»Nicht besonders«, sagte ich.
»Sie haben eine Zeitungsanzeige aufgegeben?«
»Ja«, sagte ich. »Ich suche jemanden wegen einer Erbsache, es geht um ein Grundstück.«
»Erbsache?«
»Ja, der Erbe ist spurlos verschwunden.«
»Ah, verstehe«, sagte er. »Ihre Arbeit scheint interessant zu sein.«
»Ganz im Gegenteil.«
»Klingt aber nach Moby Dick .«
» Moby Dick ?«, sagte ich.
»Ja. Hinterherjagen ist immer aufregend.«
»Zum Beispiel einem Mammut?«, fragte meine Freundin.
»Ja, zum Beispiel. Was, ist eigentlich egal«, sagte der Portier. »Ehrlich gesagt, die Idee, dieses Hotel Dolphin zu nennen, stammt auch aus Melvilles Moby Dick . Die Szene mit den Delfinen, wissen Sie.«
»Ach so«, sagte ich. »Aber wäre es dann nicht besser gewesen, es Whale Hotel zu nennen?«
»Wale haben kein so positives Image«, sagte er mit Bedauern in der Stimme.
» Hotel Delfin ist ein schöner Name!«, sagte meine Freundin.
»Vielen Dank«, lächelte der Portier. »Übrigens, ich würde Ihnen gerne einen Wein spendieren, als Zeichen meiner Dankbarkeit, dass Sie dieses Hotel so lange beehren.«
»Das freut mich aber!«, sagte sie.
»Vielen Dank«, sagte ich.
Er verschwand in einem hinteren Zimmer und kam nach einer Weile mit einer gekühlten Flasche Weißwein und drei Gläsern zurück.
»Ich bin im Dienst, aber zum Anstoßen trinke ich ein Schlückchen mit.«
»Aber natürlich«, sagten wir.
»Na dann, zum Wohle!«
Und wir tranken unseren Wein. Er war nicht gerade erstklassig, aber ein frischer, kleiner Wein. Auch die Gläser mit dem eingravierten Traubenmuster hatten Stil.
»Sie mögen Moby Dick , nicht wahr?«, fragte ich.
»Ja, deshalb wollte ich schon von klein auf Seemann werden.«
»Und deshalb führen Sie jetzt ein Hotel?«, fragte sie.
»Deshalb habe ich meine Finger verloren«, sagte er. »Beim Abladen eines Frachters bin ich in eine Winde gekommen.«
»Ah, wie schrecklich«, sagte sie.
»Damals ist mir ganz schwarz vor Augen geworden. Tja, wie das Leben so spielt, nicht. Irgendwie hab ich es dann zu diesem Hotel gebracht. Nichts Besonderes zwar, aber immerhin, man kann davon leben. Ich habe es jetzt schon fast zehn Jahre.«
Das hieß also, er war nicht der Portier, sondern der Besitzer.
»Ich kann mir kein besseres Hotel vorstellen!«, ermunterte sie ihn.
»Vielen Dank!«, sagte der Hotelbesitzer und goss uns ein zweites Glas Wein ein.
»Dafür, dass es erst zehn Jahre alt ist, hat das Gebäude viel – wie soll ich sagen – Charakter«, wagte ich mich vor.
»Gebaut wurde es ja schon kurz nach dem Krieg. Ich hatte Glück und konnte es billig kaufen.«
»Und was war es, bevor Sie ein Hotel daraus gemacht haben?«
»Es hieß Oviszentrum Hokkaido . Hier wurden alle Materialien und Dokumente, die mit Schafen zu tun hatten …«
»Schafe?!«, unterbrach ich.
»Ja, Schafe«, wiederholte er.
* * *
»Das Gebäude gehörte der Schafgesellschaft Hokkaido. 1967 wurde es geschlossen, wohl hauptsächlich wegen der schlechten Situation der Schafzucht in der Präfektur«, sagte er und trank einen Schluck Wein. »Und Leiter des Zentrums war zu dieser Zeit mein Vater. Er konnte es nicht ertragen, dass sein geliebtes Zentrum einfach so geschlossen wurde, und sprach mit den Verantwortlichen der Gesellschaft, die mir dann, unter der Bedingung, dass die Dokumente und Materialien weiterhin hier aufbewahrt würden, Gebäude und Grundstück zu einem relativ günstigen Preis verkaufte. Deshalb ist das ganze erste Stockwerk auch heute noch eine einzige Schafbibliothek – das heißt, die meisten Sachen sind natürlich veraltet und völlig unbrauchbar. Aber es ist eben das Hobby des alten Mannes. Den Rest des Gebäudes nutze ich als Hotel.«
»So ein Zufall!«, sagte ich.
»Zufall – wieso?«
»Die Sache ist die: Die Person, die ich suche, muss etwas mit Schafen zu tun haben. Der einzige Anhaltspunkt, den ich
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