Wilde Schafsjagd
besitze, ist nämlich ein Foto mit Schafen, das er geschickt hat.«
»Oh«, sagte er. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das Foto gerne mal sehen.«
Ich nahm das Schaffoto aus dem Notizblock in meiner Tasche und gab es ihm. Der Mann holte seine Brille vom Rezeptionstisch und besah es sich genau.
»Ich kenne diese Gegend irgendwoher«, sagte er.
»Sie kennen sie?«
»Ja, ganz sicher«, sagte er und nahm die Leiter, die immer noch unter der Lampe stand, um sie an der gegenüberliegenden Wand aufzustellen. Von dort holte er ein knapp unter der Decke hängendes Bild herunter. Er staubte es mit einem Lappen ab und gab es uns. »Ist das nicht dieselbe Landschaft?«
Der Rahmen war schon alt, aber das Foto darin war noch älter und vollkommen vergilbt. Aber es zeigte tatsächlich Schafe. Zusammen vielleicht sechzig. Und der Zaun, der Birkenwald, der Berg – alles war da. Der Wald unterschied sich zwar in seiner Form erheblich von dem auf Rattes Foto, aber der Berg im Hintergrund war mit Sicherheit derselbe. Sogar der Bildaufbau war gleich.
»Na, großartig!«, sagte ich zu ihr. »Und wir sind jeden Tag an dem Bild vorbeigegangen!«
»Ich hab ja gesagt, wir müssen ins Hotel Delfin «, sagte sie, als wenn nichts wäre.
»Gut«, sagte ich, als ich wieder zu Atem gekommen war, »und wo ist dieser Ort genau?«
»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Das Bild hing schon immer da, seit den Zeiten des Oviszentrums.«
»Mhm«, machte ich.
»Aber ich weiß, wie man das herausfinden könnte.«
»Und wie?«
»Fragen Sie meinen Vater. Er hat ein Zimmer im ersten Stock. Er schläft dort und hält sich auch sonst die ganze Zeit dort auf. Er verschanzt sich im ersten Stock und liest die Schafdokumente. Ich habe ihn jetzt schon beinahe einen halben Monat nicht mehr gesehen, aber er lebt mit Sicherheit noch: Das Tablett mit Essen, das ich ihm vor die Tür stelle, steht spätestens nach dreißig Minuten mit leerem Geschirr wieder draußen.«
»Ihr Vater weiß also, wo die Gegend auf dem Foto ist?«
»Wahrscheinlich. Wie ich schon sagte, er hat das Zentrum geleitet, und außerdem weiß er alles über Schafe, was es zu wissen gibt. Die Leute nennen ihn den ›Schafprofessor‹.«
»Schafprofessor«, sagte ich.
3. DER SCHAFPROFESSOR ISST VIEL UND ERZÄHLT VIEL
Nach der Aussage seines Sohnes, des Besitzers des Dolphin Hotel , konnte man das Leben des Schafprofessors unter keinen Umständen als glücklich bezeichnen.
»Vater wurde 1905 in Sendai als ältester Sohn einer ehemaligen Samurai-Familie geboren«, sagte der Sohn. »Es stört Sie doch nicht, dass ich die westliche Zeitrechnung benutze?«
»Nein, bitte, fahren Sie nur fort«, sagte ich.
»Die Familie war nicht übermäßig reich, aber sie hatte Grundbesitz und Anwesen, und sie war etabliert, da sie ehemals den Obersten Hofrat des Fürstentums stellte. Ende der Edo-Periode ist aus ihr sogar ein namhafter Agrarwissenschaftler hervorgegangen.«
Der Schafprofessor war schon von klein an ein ausgezeichneter Schüler und in ganz Sendai als Wunderkind bekannt. Er war nicht nur ein schulisches Genie, sondern spielte auch hervorragend Geige. Während der Mittelschulzeit trat er sogar einmal mit einer Beethoven-Sonate vor der kaiserlichen Familie auf, die gerade die Präfektur besuchte, und bekam eine goldene Uhr geschenkt.
Seine Familie hätte es gerne gesehen, wenn er die juristische Laufbahn eingeschlagen hätte, aber er lehnte das ab.
»Ich habe kein Interesse an der Jurisprudenz«, sagte der junge Schafprofessor.
»Nun gut, dann widme dich der Musik«, sagte sein Vater. »Ein Musiker in der Familie schadet nicht.«
»An der Musik habe ich ebenfalls kein Interesse«, erwiderte der Schafprofessor.
Eine Weile sprach niemand.
»Nun«, brach der Vater das Schweigen, »welche Laufbahn willst du dann einschlagen?«
»Ich interessiere mich für Landwirtschaft. Ich denke daran, Landwirtschaftsplanung zu studieren.«
»Gut«, sagte der Vater schließlich. Ihm blieb nichts anderes übrig. Der junge Schafprofessor hatte zwar eine ehrliche, freundliche Natur, aber von dem, was er einmal gesagt hatte, wich er unter keinen Umständen wieder ab. Selbst sein eigener Vater konnte ihm nicht widersprechen.
Und so immatrikulierte sich der Schafprofessor im folgenden Jahr an der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tokyo, ganz wie es sein Wunsch gewesen war. Seine Genialität ließ auch in der Universität nicht nach. Jeder, selbst seine Lehrer,
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