Wilde Schafsjagd
hätte. Eine dicke Frau mittleren Alters starrte mit der Miene eines Musikkritikers, der sich gerade auf eine Klaviersonate von Skrjabin konzentriert, auf einen bestimmten Punkt im Raum. Heimlich folgte ich ihrem Blick, aber es gab dort nichts – nichts als leeren Raum.
Sogar die Kinder waren alle ruhig. Keines lärmte, keines lief herum; sie machten sich nicht einmal die Mühe, die Landschaft draußen zu betrachten. Von Zeit zu Zeit hustete irgendjemand – trockenes Gebell, als schlüge man mit der Feuerzange einer Mumie den Kopf ein.
Jedes Mal, wenn der Zug hielt, stieg jemand aus, und jedes Mal, wenn jemand ausstieg, stieg auch der Schaffner aus, um die Fahrkarte entgegenzunehmen. Dann stieg er wieder ein, und der Zug fuhr los. Sein Gesicht war so ausdruckslos, dass er jederzeit unmaskiert einen Bankraub hätte begehen können. Neue Fahrgäste stiegen nicht zu.
Draußen floss der Fluss, vom Regen braun verfärbt. In der Herbstsonne sah er aus wie ein glitzernder Milchkaffeekanal. Die befestigte Uferstraße tauchte auf und verschwand wieder. Manchmal sah man einen riesigen, mit Holz beladenen Laster Richtung Westen fahren, aber alles in allem war das Verkehrsaufkommen furchtbar gering. Gleichwohl verkündeten Werbetafeln am Straßenrand ohne Unterlass Nachrichten an nichts und niemanden. Aus Langeweile sah ich mir die elegante, von der großen weiten Welt kündende Werbung an. Hier trank ein braun gebranntes Mädchen im Bikini Coca-Cola, dort führte ein Charakterdarsteller um die fünfzig ein Scotchglas zum Mund, die Stirn in Falten gelegt. Eine Unterwasserarmbanduhr trug Nass, und ein Fotomodell lackierte sich in einer sündhaft teuren Traumwohnung die Nägel. Anstelle der Siedler erschlossen nun mit gekonnter Raffinesse die Pioniere der Werbeindustrie das Land.
Um zwei Uhr vierzig erreichte der Zug die Endstation Junitaki. Irgendwann waren wir beide fest eingeschlafen und hatten nicht einmal die Durchsage des Schaffners gehört. Der Dieselmotor stieß einen letzten Seufzer aus, dann herrschte absolute Stille. Diese Stille, die mir geradezu auf der Haut brannte, weckte mich auf. Als ich zu mir kam, war außer uns niemand mehr im Abteil.
Hastig nahm ich unser Gepäck aus dem Netz, klopfte meiner Freundin ein paar Mal auf die Schulter, um sie zu wecken, und wir stiegen aus. Auf dem Bahnhof wehte ein kühler Wind, der das Ende des Herbstes ahnen ließ. Obwohl es noch so früh war, stand die Sonne bereits tief, die Berge warfen unheilvoll dunkle Schatten auf die Erde. Zwei Bergrücken liefen direkt hinter der Stadt in einem Punkt zusammen; sie hielten sie fest umschlossen, wie Hände, die eine Streichholzflamme vor dem Wind schützen. Der lange, schmale Bahnsteig schien sich wie ein schwaches, kleines Boot in emporragende riesige Wellen stürzen zu wollen.
Überwältigt starrten wir einige Zeit auf dieses Panorama.
»Wo ist die ehemalige Weide des Schafprofessors?«, fragte sie.
»Auf einem der Berge. Noch drei Stunden mit dem Auto.«
»Fahren wir jetzt gleich dorthin?«
»Nein«, sagte ich. »Wenn wir jetzt noch hochfahren, wird es dunkel, ehe wir da sind. Besser, wir übernachten irgendwo und fahren morgen früh.«
Vor dem Bahnhof befand sich ein kleiner, vollkommen leerer Platz, anscheinend nicht gerade beliebt. An der Taxihaltestelle wartete kein einziges Taxi, und aus dem Springbrunnen in Gestalt eines Vogels kam kein Wasser. Mit geöffnetem Schnabel sah der Vogel völlig ausdruckslos immerzu zum Himmel auf. Rund um den Springbrunnen hatte man Beete mit Ringelblumen angepflanzt. Man sah auf den ersten Blick, dass die Stadt in den letzten zehn Jahren noch weiter verfallen war. Kaum ein Mensch war zu sehen, und die Leute, die gelegentlich doch vorüberliefen, hatten genau jenen abwesenden Gesichtsausdruck, der charakteristisch ist für Menschen, die in heruntergekommenen Städten leben.
Linker Hand vom Bahnhofsvorplatz stand ein halbes Dutzend alter Lagerhäuser – Überbleibsel aus den Zeiten, als Güterverkehr noch ausschließlich Eisenbahnverkehr bedeutete. Es waren alte Backsteingebäude mit hohen Dächern, deren Eisentore wohl unzählige Male überstrichen worden waren, bevor man sie endgültig entfernt hatte. Auf den Dächern der Lagerhäuser saßen lange Reihen gewaltiger Krähen, die stumm auf die Stadt herabsahen. Auf dem leeren Platz neben den Lagerhäusern rosteten mitten in einem Dschungel aus mannshohem Unkraut zwei alte Autos vor sich hin. Keines hatte mehr einen einzigen Reifen, die
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