Wilde Schafsjagd
Sektor. Aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels in der Hochwachstumsphase in Zusammenhang mit der besonderen Situation Hokkaidos, wo Kältezonen-Anbau geboten war, zeige die Stadt einen außergewöhnlich hohen Rückgang im landwirtschaftlichen Sektor, hieß es.
Und was wurde aus dem Ackerland, nachdem die Bauern fortgezogen waren? Man forstete es auf. Dort, wo die Großeltern und Eltern beim Roden Blut und Wasser geschwitzt hatten, um das Land urbar zu machen, pflanzten die Enkel und Kinder wieder Bäume. Höchst erstaunlich, das Ganze.
Die Hauptindustrie des heutigen Junitaki bestand demzufolge in Forstwirtschaft und Holzfertigung. Es gab eine Anzahl kleiner Holzwerkstätten in der Stadt, in denen Fernseh- und Schminktischchen und Touristensouvenirs angefertigt wurden: Holzfiguren von Bären und Ainus. Das ehemalige Versammlungshaus war zum Heimatmuseum umfunktioniert worden, in dem die alten landwirtschaftlichen Geräte und das Kochgeschirr der ersten Siedler ausgestellt waren. Ebenso war der Nachlass der beiden im Japanisch-Russischen Krieg gefallenen Söhne des Dorfes dort zu sehen. Und sogar eine Lunchbox mit dem Abdruck eines Braunbärzahns. Auch der Brief, mit dem man sich seinerzeit nach der Gläubigersituation im Heimatdorf erkundigt hatte, war erhalten geblieben.
Aber, offen gestanden, das heutige Junitaki musste ein furchtbar langweiliges Städtchen sein. Nach getaner Arbeit ins traute Heim zurückgekehrt, sah die Mehrzahl der Einwohner ihre durchschnittlichen vier Stunden fern und ging schlafen. Die Wahlbeteiligung lag relativ hoch, aber man konnte immer genau vorhersagen, wer gewählt wurde. Das Motto der Stadt war »Reiche Menschen in reicher Natur« – das stand jedenfalls auf dem Schild vor dem Bahnhof.
Ich klappte das Buch zu, gähnte und schlief ein.
2. DER WEITERE VERFALL DER STADT – DIE SCHAFE
In Asahikawa stiegen wir um und fuhren Richtung Norden über den Shiokari-Pass. Es war ungefähr der gleiche Weg, den seinerzeit vor achtundneunzig Jahren der junge Ainu und die achtzehn armen Bauern genommen hatten.
Die Herbstsonne brachte die verbliebenen Reste von Urwald und das feuerrote Laub der Ebereschen gut zur Geltung. Die Luft war reglos klar. Wenn man länger hinsah, taten einem die Augen weh.
Anfangs war der Zug leer, aber dann wurden wir von einer Horde Oberschüler und Oberschülerinnen überrollt – von Gezappel, begeisterten Stimmen, fettigem Haar, von Geschwätz und unterschwelliger Sexualität. Das Ganze dauerte ungefähr dreißig Minuten, dann, an einem bestimmten Bahnhof, waren sie allesamt augenblicklich verschwunden. Der Zug war wieder leer, kein Wort war zu hören.
Wir teilten uns eine Tafel Schokolade und überließen uns kauend der Landschaft. Stilles Licht überflutete die Erde. Alles wirkte weit weg, als sähen wir es durch das falsche Ende eines Fernglases. Meine Freundin pfiff eine Zeit lang leise Johnny B. Goode vor sich hin. So lange hatten wir noch nie geschwiegen.
Als wir aus dem Zug ausstiegen, war es nach zwölf. Auf dem Bahnsteig reckte ich mich erst einmal und atmete tief durch. Die Luft war so rein, dass ich dachte, meine Lungen müssten explodieren. Warm und angenehm schien die Sonne auf die Haut, obwohl es mit Sicherheit zwei Grad kälter war als in Sapporo.
Ein paar alte Lagerhäuser aus Backstein säumten die Gleise, daneben lagen dicke Baumstämme, zu Pyramiden gestapelt und dunkel vollgesogen mit dem Regen der vergangenen Nacht. Als der Zug, mit dem wir gekommen waren, weiterfuhr, war keine Menschenseele mehr zu sehen, nur die Ringelblumen in den Blumenkübeln zitterten im kühlen Wind.
Das, was man vom Bahnsteig aus von der Stadt sehen konnte, war ein kleines Kaufhaus, eine chaotische Hauptstraße, ein Busbahnhof mit zirka zehn Haltestellen und eine Touristeninformation – eine typische Kleinstadt auf dem Lande. Auf den ersten Blick völlig uninteressant.
»Sind wir da?«, fragte sie.
»Noch nicht, wir müssen noch mal umsteigen. Wir wollen in eine noch viel, viel kleinere Stadt.« Ich gähnte und atmete noch einmal tief durch. »Das ist sozusagen eine Relaisstation. Von hier aus sind die ersten Siedler nach Osten weitergezogen.«
»Welche Siedler?«
Im Wartesaal setzte ich mich vor den kalten Ofen und erzählte meiner Freundin, bis unser Anschlusszug kam, eine Kurzfassung der Geschichte von Junitaki. Mit den Jahreszahlen hatte ich meine Schwierigkeiten; ich nahm deshalb einen Zettel und machte mit Hilfe der Angaben im Einband der
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