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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Motorhauben standen offen, die Eingeweide waren herausgerissen worden.
    Auf dem Bahnhofsvorplatz, der einer verlassenen Eislaufbahn ähnelte, stand zwar eine Informationstafel mit Stadtplan, aber die Schrift war so verwittert, dass sie höchstens zur Hälfte zu entziffern war. Das Einzige, was man ohne Probleme lesen konnte, war »Stadt Junitaki« und »Nördlichstes Großanbaugebiet für Reis«.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes begann eine kleine Einkaufsstraße. Sie war wie alle Einkaufsstraßen, allerdings ungeheuer breit, was die Stadt noch kälter erscheinen ließ. Die Ebereschen zu beiden Seiten der breiten Straße leuchteten in herbstlichem Rot, aber der Kälte tat es keinen Abbruch. Jede von ihnen erfreute sich ihres eigenen Lebens, unabhängig vom Schicksal der Stadt. Nur die dort lebenden Menschen und ihr tägliches Einerlei wurden vollkommen von der Kälte erfasst.
    Ich schulterte meinen Rucksack und lief die fünfhundert Meter Einkaufsstraße einmal bis zum anderen Ende hinunter, um ein Gasthaus zu suchen. Nichts. Bei einem Drittel der Geschäfte waren die Läden dicht. Das Schild des Uhrmachers war an einer Stelle abgerissen und schlug blechern im Wind.
    Dort, wo die Einkaufsstraße schlagartig aufhörte, war ein großer, mit Unkraut bewachsener Parkplatz. Ein kremfarbener Nissan Fairlady und ein roter Sportwagen, ein Toyota Celica , waren dort abgestellt. Beides nagelneue Fahrzeuge. Das Unpersönliche des Neuen passte komischerweise nicht schlecht zur Leere der Stadt.
    Hinter der Einkaufsstraße gab es so gut wie nichts mehr. Die breite Straße verengte sich zu einem leicht abfallenden Weg, der zum Fluss hinunterführte und sich dort nach rechts und links teilte. Beiderseits des Weges standen kleine, einstöckige Reihenholzhäuser, in deren Vorgärten verstaubte Sträucher knochige Zweige zum Himmel streckten. Die Sträucher waren alle irgendwie seltsam beschnitten. Vor jeder Haustür standen der gleiche große Öltank und die gleiche Milchflaschenbox. Jedes Dach war mit einer erstaunlich großen Fernsehantenne versehen. Die Fernsehantennen reckten ihre silbernen Fühler in den Himmel, als wollten sie die hinter der Stadt aufragenden Berge zum Kampf herausfordern.
    »So was wie ein Gasthaus gibt’s hier wohl nicht?«, fragte meine Freundin besorgt.
    »Keine Sorge, ein Gasthaus gibt’s in jeder Stadt.«
    Wir gingen zum Bahnhof zurück und fragten nach einem Gasthaus. Die beiden Schalterbeamten, die vom Altersunterschied her Vater und Sohn hätten sein können und sich zu Tode zu langweilen schienen, wiesen uns überaus freundlich in die Gasthauslage der Stadt ein.
    »Also, es gibt zwei Gasthäuser«, sagte der ältere der beiden. »Das eine ist relativ teuer, das andere relativ billig. Das teure wird benötigt, wenn zum Beispiel ein wichtiger Beamter der Präfekturverwaltung kommt oder wenn ein feierliches Bankett gegeben werden soll.«
    »Das Essen ist da ziemlich gut«, fügte der jüngere hinzu.
    »In dem anderen übernachten Handelsreisende, junge Leute oder ganz normale Leute. Es sieht zwar furchtbar aus, aber es ist nicht unsauber. Das Bad ist gar nicht schlecht.«
    »Aber die Wände sind dünn«, warf der jüngere ein.
    Dann diskutierten die beiden eine Weile über die genaue Stärke der Wände.
    »Wir nehmen das teure«, erklärte ich. Im Umschlag hatte ich noch Geld genug – mehr als genug; es gab keinen Grund zu sparen.
    Der jüngere Schalterbeamte zog ein Blatt von seinem Notizblock ab und zeichnete uns den Weg zum Gasthaus auf.
    »Vielen Dank«, sagte ich. »Die Stadt wirkt viel verlassener als vor zehn Jahren, nicht?«
    »Ja, das ist wahr«, sagte der ältere. »Es gibt jetzt nur noch ein Sägewerk und keine Ersatzindustrie. Die Landwirtschaft ist auch fast am Ende, und da geht die Bevölkerung natürlich zurück.«
    »Man kriegt nicht mal mehr richtige Schulklassen zusammen!«, fügte der jüngere hinzu.
    »Wieviel Einwohner haben Sie denn jetzt?«
    »Man spricht von ungefähr siebentausend, aber in Wirklichkeit sind es bestimmt weniger. Fünftausend dürften der Sache wohl näher kommen«, sagte der jüngere.
    »Die Eisenbahnlinie kann auch jeden Tag stillgelegt werden, man weiß nie. Sie steckt von allen Strecken in ganz Japan am dritttiefsten in den roten Zahlen«, sagte der ältere.
    Demnach gab es zwei Eisenbahnstrecken, die noch verkommener waren als diese. Erstaunlich. Ich bedankte mich und ging.
    Das Gasthaus lag am Fluss. Man musste durch die Einkaufsstraße gehen,

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